Dorf mit Geschichte

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Filmstill aus «Zimmerwald»: Hände, welche eine Postkarte halten

Im September 1915 veranstaltete ein Schweizer Sozialdemokrat in Zimmerwald bei Bern heimlich eine internationale Konferenz gegen den «Krieg der Kapitalisten». Getarnt als Ornitholog:innen, versammelten sich sozialistische Kriegsgegner:innen aus über zehn Ländern im Hotel Beau Séjour und verabschiedeten das «Zimmerwalder Manifest» – unter ihnen Lenin, Trotzki und Clara Zetkin. In der Sowjetunion sicherte sich Zimmerwald damit einen prominenten Platz im Gründungsmythos der revolutionären Internationale. Im Dorf selbst versuchte man hingegen lange, das Ereignis möglichst vergessen zu machen und alle Spuren zu verwischen.

Valeria Stuckis Dokumentarfilm legt einige dieser Spuren wieder frei – zusammen mit Schüler:innen aus Zimmerwald, die im Film auf Recherche gehen. Es taucht ein Schulatlas auf, in dem das Dorf das Zentrum der Schweiz markiert; wir hören das Zwitschern eines Goldhähnchens in jenem Wald, den die revolutionären «Vogelkundler» damals vielleicht durchritten; und jemand zeigt den Parkplatz, dem das «Lenin-Haus» vor Jahren wohl auch deshalb weichen musste, weil es zu viele russische Besucher:innen anzog. Jede skurrile Spur lenkt unser Interesse weg von den historischen Details, hin zum Prozess des willentlichen Vergessens, der sich im Umgang des Dorfes mit seiner unerwünschten Geschichte zeigt.

Schlüsselmoment des Films ist die Tonaufnahme der Rede, die der Gemeindepräsident 1965 auf der sogenannten Gegenkonferenz hielt. Mit einer Stimme, die keine Widerrede duldet, stellte er darin ein für alle Mal fest, dass ein «Dorf keine Geschichte» habe, «seine täglichen Ereignisse nur Wellenschläge des Daseins» seien und auch «die Menschen im Grunde immer dieselben Gesichter» hätten. Besser kann man die reaktionäre Haltung, die hinter dem Zimmerwalder Vergessen steckt, nicht verdeutlichen.

«Zimmerwald». Regie: Valeria Stucki. In: Solothurn, Konzertsaal, So, 21. Januar 2024, 9.45 Uhr, und Canva Club, Di, 23. Januar 2024, 20 Uhr.