Es gibt kein Ende Wie über sexualisierte Gewalt sprechen? Laura Leupi, Aaiún Nin und Olivia Wenzel setzen sich schreibend damit auseinander. Liest man ihre Werke laut, wird klar: Diese Texte wollen an die Öffentlichkeit.

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Filmszene aus Super-8-Film abfotografiert: auf Campingmöbel im Freien wird angestossen
Das Foto stammt aus einem Bildessay der WOZ-Fotografin Ursula Häne: Sie hat Filmszenen aus Super-8-Filmen abfotografiert, die ihr Vater in den siebziger Jahren aufgenommen hat. 
 

Das Zuhause fühlt sich nicht mehr an wie einst, und geschehen all diese seltsamen Dinge wirklich? Dem Stuhl wachsen Haare, die Fusseln zwischen den Zehen verhärten sich zu Geschwüren, das Bett lacht höhnisch. Schimmel überall.

«Ich erinnere: Winter 2021, ich bewerbe mich für eine Residenz mit dem Jahresthema HOME, und es scheint mir absolut zwingend, zu Gewalterfahrungen im HOME zu schreiben; eine andere Auseinandersetzung mit dem Zuhause ist unmöglich für mich.» Das heisst es nun in Laura Leupis «Alphabet der sexualisierten Gewalt», das in grossen Teilen in der Dogo-Residenz für Neue Kunst im toggenburgischen Lichtensteig entstand. In wenigzeiligen Miniaturen beschreibt Laura Leupi darin die Vorgänge in der Wohnung, die fremd und vertraut zugleich ist, anders als zuvor auf jeden Fall. Zuvor, das heisst vor der Vergewaltigung, deren Verarbeitung Leupi im «Alphabet» von verschiedenen Seiten anzugehen versucht.

Eine Einladung

Wie über sexualisierte Gewalt sprechen, schreiben? Leupis Zugang ist das Alphabet, eine Auseinandersetzung in Listenform. Ein Versuch, Ordnung zu schaffen, das ­«THEMA» (Leupi schreibt es manchmal in Grossbuchstaben, dieses vermaledeite Ding) greifbar zu machen. Kürzlich hat auch die deutsche Schriftstellerin Olivia Wenzel für eine literarische Auseinandersetzung mit der sexualisierten Gewalt, die ihr angetan wurde, die Form der Liste gewählt. In ihrem Text «Das kleine Schwarze, das grosse Weisse, die Nacht dazwischen», der im Literaturmagazin «Delfi» erschien, nimmt sie 21 Anläufe, folgt in kleinen Textportionen immer wieder einem anderen Gedanken. Es ist ein Einkreisen, ein Versuch, den Schmerz und all die diffusen Gefühle irgendwie festzumachen. «Hier werde ich den Text beenden, einfach so – in dem Wissen, dass es jenseits dieses Texts kein Ende gibt», schreibt Wenzel ganz zum Schluss: In ihrem wie in Leupis Text wird klar, dass man mit Schreiben dem allem begegnen kann, fassbar ist es aber wohl immer nur bedingt.

Im «Alphabet der sexualisierten Gewalt» kommen zu Beobachtungen, Reflexionen, Innenansichten auch Google-Anfragen, Wikipedia-Diskussionen, Theoriefetzen. Kurze Absätze, ein vielmaliges Aufblitzen. Gerahmt ist das alles vom Alphabet: eine klar umrissene, aber nur vermeintlich strenge Form, die sich unendlich mit Begriffen füllen liesse. «A steht für Angst, die wir nicht haben sollten, uns aber anerzogen wird […]. A steht für Alltag. A steht auch für Anwält:in, anal, Abwärtsspirale, Angela Davis.» Oder: «W steht für Wut. W steht für weinen. W steht für widersprechen und Widersprüche. W steht auch für Widerstand.» Ein riskantes Unterfangen, so zu arbeiten, es lauert auch immer die Beliebigkeit. Aber trotz manchmal ausufernder Ideenansammlungen ist das «Alphabet» ein starker Text: weil er von der Assoziation lebt, den vielen Verästelungen, doch präzise ist in der Begrenzung davon. Er trägt das Ringen um Entscheidungen stets in sich – dass immer etwas fehlen wird, hat da auch etwas Befreiendes. Ein solches Alphabet sagt auch: Es könnte alles auch ganz anders sein. «Es ist eine Einladung, über das eigene Alphabet nachzudenken», schreibt Leupi.

Wie wird in der Öffentlichkeit über sexualisierte Gewalt gesprochen? Im Text wird der Begriff des «rape script» der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin Sharon Marcus eingeführt: Demnach ist der öffentliche Diskurs über sexualisierte Gewalt stark von bestimmten Narrativen geprägt, die wiederum beeinflussen, wie wir uns diese Gewalt vorstellen. Der fremde, böse, cis-männliche Täter, das unschuldige, oft weisse, cis-weibliche Opfer, das «schwer traumatisiert und beschämt ist und trotzdem sofort nach der Tat zur Polizei geht. Das sich erinnern kann (kohärent und korrekt, auch bei Wiederholung)» – solche Bilder wirken bis heute. Dagegen will Leupi anschreiben. Das «Alphabet» ist damit auch ein Versuch, dem Skript andere Möglichkeiten hinzuzufügen, mit Leupi selbst als betroffener Person: sicher nicht beschämt, sicher auch nicht kohärent im Erzählen.

Filmszene aus Super-8-Film abfotografiert: an einem Familienfest
Das Foto stammt aus einem Bildessay der WOZ-Fotografin Ursula Häne: Sie hat Filmszenen aus Super-8-Filmen abfotografiert, die ihr Vater in den siebziger Jahren aufgenommen hat. 
 

Rhythmisch und repetitiv

«und wenn wir nicht sprechen können müssen wir schreiben / und wenn wir nicht schreiben können / kehren wir zum Sprechen zurück / bevor wir zu etwas vollkommen anderem werden», das schreibt Aaiún Nin, Autor:in, Künstler:in, 1991 in Angola geboren. Die Familie flüchtete vor dem Bürgerkrieg nach Simbabwe, als Nin sechs Jahre alt war. Als dort politische Unruhen ausbrachen, kehrten sie nach Angola zurück. Dann suchte die Familie Schutz in Südafrika, später ging Nin alleine nach Dänemark, nachher nach Polen. Aktuell lebt Nin in Bern, im Rahmen eines Stipendiums der International Cities of Refuge Network, das in Zusammenarbeit mit dem Deutschschweizer PEN-Zentrum verfolgten Autor:innen Aufenthalt bietet.

«Denn Schweigen ist ein Gefängnis» heisst Nins Lyrikdebüt auf Deutsch, ein gar programmatischer Titel, direkter als das Englische «Broken Halves of a Milky Sun». Aber eigentlich passt das gar nicht so schlecht zu den Texten, die oft wirken wie aus Nin herausgebrochen, über die Fluchterfahrungen, Krieg, die von Gewalt geprägte Gesellschaft von Nins Kindheit, über das Erleben als Migrant:in und Mensch im Exil, über das Schwarzsein, über sexualisierte Gewalt. Viel Schmerz ist in diesen Zeilen, Wut. «Halte deine Beine geschlossen / sei gut mit den Händen und lerne schnell / Weine / wenn es niemand sieht / schlucke den Schmerz herunter und / denke niemals, dieses Leben gehöre dir.» Auch über queeres Begehren schreibt Nin, das übrigens auch von Leupi explizit als Rettung verstanden wird. Subtil sind Nins Texte nicht, sie sollen es wohl auch nicht sein. Sie sind eindringlich, ja, aber auch mal recht plakativ, bloss hingeschrieben wirkt das Parolenhafte etwas leer. In den wenigen auf Youtube auffindbaren Videos allerdings, in denen Nin diese Texte laut vorträgt, wird deren Dringlichkeit verständlicher. In einem Videoporträt sagte Nin über die eigene Textarbeit, diese sei auch eine Beschäftigung mit einer mündlichen Tradition innerhalb der angolanischen Kultur, die heute mehr und mehr verschwinde: eine spezifische Weise, Geschichten zu erzählen, rhythmisch und repetitiv, eine Art zu sprechen, die Emotionen auslösen soll. Es gelingt: So an der Öffentlichkeit geraten die Texte auf einmal in Schwingung.

Filmszene aus Super-8-Film abfotografiert: Seilbahn
Das Foto stammt aus einem Bildessay der WOZ-Fotografin Ursula Häne: Sie hat Filmszenen aus Super-8-Filmen abfotografiert, die ihr Vater in den siebziger Jahren aufgenommen hat. 
 

Andere Begriffe finden

Auch Leupis Text wird laut gesprochen noch einmal zu etwas anderem. Denn das «Alphabet der sexualisierten Gewalt» ist auch ein Sprechtext. Jedenfalls hat es Leupi zu einem gemacht, 2023 eingeladen an die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, wo jährlich der Bachmannpreis vergeben wird. Leupi inszenierte das Alphabet eher als Performance denn als Lesung, als Ansprache und Appell an das Publikum. «Wobei ich Sie […] bitten möchte, Schuld und Sühne gleich wieder zu vergessen», sagte Leupi zu Beginn. «Es wird hier keine Strafe und keine Härte gefordert, kein Gefängnis als Lösungsansatz vorgeschlagen. Aber meine Zeug:innen werden Sie sein. Sie werden versuchen, gemeinsam mit diesem Text das Geschehen und seine Auswirkungen zu erforschen.» Keine einfachen Angebote, dafür eine Aufforderung, sich dazu zu verhalten.

Interessant ist am Bachmann-Wettbewerb auch die heftige Jurydiskussion, die Leupis Text auslöst. Juror Philipp Tingler wittert Identitätspolitik und kanzelt ihn deswegen recht aggressiv als «totalitär» und «geschlossen» ab, fast alle anderen halten dagegen. Jurorin Mithu Sanyal etwa meint, auch bei ihr hätten anfangs bei einigen Stellen im Text die Alarmglocken geläutet, aber dann gehe der Text eben doch weit darüber hinaus. Tatsächlich kommen manche Begriffe im «Alphabet» aus einem identitätspolitisch sowie therapeutisch geprägten feministischen Diskurs – G wie «Gaslighting», T wie «Trigger» –, der Text ist damit auch Ausdruck davon, wie in einer bestimmten Gruppe über sexualisierte Gewalt gesprochen wird. Tingler triggerts, die anderen Juror:innen reagieren gelassener. Es könnte gerade ein Ausgangspunkt sein: darüber nachzudenken, wie man über sexualisierte Gewalt sprechen will. Und dann eben bessere, neue, andere Begriffe finden, wenn man denn möchte. Aber mitreden.

Laura Leupi: «Das Alphabet der sexualisierten Gewalt». März Verlag. Berlin 2024. 140 Seiten. 30 Franken.

Aaiún Nin: «Denn Schweigen ist ein Gefängnis». Gedichte. Aus dem Englischen von Olaide E. Frank. Én Verlag. Kopenhagen 2022. 88 Seiten. 35 Franken.

Laura Leupi liest in Solothurn am Fr, 10. Mai 2024, um 10 Uhr und 13 Uhr; Sa, 11. Mai 2024, um 15.30 Uhr; So, 12. Mai 2024, um 16 Uhr

Aaiún Nin liest in Solothurn am Fr, 10. Mai 2024, um 16 Uhr.