Eine autonome Bewegung entsteht (1) Lehrlinge und Schüler:innen, Hippies und Rocker: Anfang der siebziger Jahre kommt es in der Schweiz zu einem Aufbruch der Unangepassten. In Zürich reagieren die Behörden mit heftiger Repression.
Es ist eine der Geburtsstunden der autonomen Bewegung der Schweiz. Am 6. Januar 1971 besetzt eine Gruppe Jugendlicher den damaligen grossen Bunker unterhalb des Lindenhofs, mitten in der Zürcher Innenstadt. Im Bunker befindet sich das Autonome Jugendzentrum (AJZ), das erst drei Monate zuvor eröffnet worden war und das die Stadt schliessen wollte. Von der Aktion existiert ein Foto: Darauf sind die Besetzer und die einzige Besetzerin zu sehen. Im Hintergrund ist die Fahne der eben erst gegründeten Autonomen Republik Bunker drapiert. Der gelbe Stern darauf verweist auf Nordvietnam und die damalige Befreiungsbewegung Vietcong, die sich gegen den US-Imperialismus zur Wehr setzt.
Anita Barrier, die Tochter eines Schweizer Diplomaten, sitzt in der Mitte der Gruppe. Vor ihr hat sich René Keller platziert, ein Heimkind, neben ihm Barriers Ehemann Guy, der aus grossbürgerlichen Verhältnissen stammt und Wortführer der Bewegung ist. Die drei wohnen damals zusammen in einer Kommune im Zürcher Vorort Hegnau. Sie sind Teil der Sozialistischen Kampfgruppe (SK), die sich als «Avantgarde der Bewegung» versteht und die Besetzung initiiert. Ein Jahr später gründen sie die Roten Steine, die umstrittene linksradikale Gruppe mit Ablegern in Basel und St. Gallen, die es bis zum Ende des Jahrzehnts geben wird. Heute jedoch kennt sie kaum jemand mehr.
Ganz rechts unten auf dem Bild ist auch Dany zu sehen (der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen will), damals zwanzig Jahre alt. Eine Lehre als Maschinenmechaniker hat er abgebrochen. Auch er wird später einer der Roten Steine. Als das Foto entsteht, ist er der «Boss» der Black Eagles, einer Rockergruppe, die im Bunker für Ordnung sorgt. Er sagt, die Hälfte seiner damaligen Gang habe bei der Besetzung mitgemacht. «Die andere Hälfte hat im Niederdorf rumgesoffen und das Restaurant Rheinfelder demoliert, weil sie kein Bier bekamen.»
68 Tage AJZ im Bunker
Der Lindenhofbunker ist heute eine Parkgarage. Doch während der 68 Tage als AJZ steht das fensterlose, dreistöckige Gemäuer im Zentrum heftiger politischer Auseinandersetzungen. Es wird zum Symbol der unzufriedenen Jugend, die ein ganz anderes Leben als das ihrer Eltern führen will.
Eröffnet wird der Bunker nach langen Verhandlungen mit der Stadt am 30. Oktober 1970 mit einem dreitägigen Fest. Das unterste Geschoss besteht aus einem rund 150 Quadratmeter grossen Raum, dessen Boden mit Nadelfilzplatten belegt ist. An der Wand stehen hölzerne Sitzbänke, im Raum sind Matratzen verteilt. Das zweite Geschoss ist etwas kleiner, aber ähnlich eingerichtet, der dritte Stock ist in mehrere kleinere Räume unterteilt.
Der Bunker wird sofort zum Magnet für die Jugend. Guy Barrier schrieb Jahre später in der Zeitschrift «Widerspruch» metaphorisch von der «Lava», die im Vulkan brodelte und nun «auf einmal ausbrach», von Lehrlingen und Schüler:innen, die von der Familie, aus Anstalten, Lehrstellen und Schulen davonlaufen: «Sie theoretisierten nicht wie viele der Studenten der Bewegung von 1968 über den Bruch mit Tradition, Autorität und kapitalistischer Gesellschaft, sondern sie vollzogen ihn.»

Die Mehrzahl der Besucher:innen ist männlich. Doch Fotos zeigen auch viele junge Frauen, die sich vom AJZ angezogen fühlen. Auch Beatrice (deren richtiger Name hier nicht genannt sein soll) verkehrt oft im Bunker. Sie gehört ebenfalls zu den Gründer:innen der Roten Steine und wohnt später in der Kommune Hegnau. Die damals 15-Jährige wird im Bunker eine der Freundinnen des 28-jährigen Guy Barrier, der deswegen später wegen «Unzucht mit Minderjährigen» angeklagt und verurteilt wird.
Im Bunker sind Drogen allgegenwärtig. Marco Rimoldi, später eine zentrale Figur der Roten Steine, sagt: «Ich habe dort permanent gekifft und Acid genommen, auch Psilos gab es und Meskalin.» Sein Bruder Rico Rimoldi schwärmt noch heute von der «grossartigen Soundanlage» im Bunker: «Ich kann mich erinnern, wie das Stück ‹Child in Time› von Deep Purple lief, als ich auf einem Trip war. Das ist so eingefahren.»
Drogen werden damals in Teilen der Linken positiv gesehen. So kann man 1970 in der progressiven Monatszeitung «Focus» lesen, dass diese wesentlich dazu beigetragen hätten, «die zwanghafte Einheitlichkeit des psychischen Niveaus der Gesellschaft zu zerstören und Energie freizusetzen für die Entwicklung eines neuen Bewusstseins, neuer Verhaltensweisen und neuer progressiver Subkulturen». Allerdings, so heisst es einschränkend, überwögen inzwischen die negativen Auswirkungen.

Von Anfang an nehmen die Bunkergegner:innen den Drogenkonsum zum Anlass, das Projekt anzugreifen. So fordert die damalige Gratiszeitung «Züri Leu» bereits nach vier Tagen unter anderem wegen des Haschischkonsums den «Abbruch des Experiments». Schliesslich setzt der Stadtrat ein Ultimatum. Die Öffnungszeiten müssten reduziert werden, unter Sechzehnjährige dürften nur bis 18 Uhr zugelassen werden. Kurze Zeit später veranstaltet die Polizei eine Razzia im Bunker. Zwar findet sie gerade einmal 75 LSD-Tabletten und 19 Gramm Haschisch, doch der Druck auf die Bunkerleute wird so weiter erhöht.
Als die Vollversammlung der Bunkerbewegung das Ultimatum der Stadt ablehnt, haben die Besetzer:innen den Bunker bereits verschlossen. Doch ihre Aktion dauert nur einige Tage, bis die Polizei am 18. Januar 1971 zur Räumung ansetzt. Am Ende gelingt es einigen, unbemerkt zu flüchten, andere werden verhaftet.
Die Bewegung
Die Hetze und die Repression gegen die Bunkerleute haben wohl mit zur Entstehung der autonomen Bewegung beigetragen. An einer Vollversammlung nach der Räumung nehmen über tausend Jugendliche teil. Demonstrationen und Protestaktionen werden nun vorbereitet und Quartiergruppen gegründet. Auch wird an der Venedigstrasse erstmals in der Stadt ein leer stehendes Wohnhaus besetzt. Im Shopville, der Ladenpassage unter dem Hauptbahnhof, treffen sich über Monate Jugendliche und hängen dort ab, was für die Obrigkeit ein ständiges Ärgernis ist. Am 6. Februar stürmen abends 150 Bunkerleute den Uniball und machen sich über das kalte Buffet her. René Keller behändigt sich, so rapportiert danach die NZZ, «des Mikrophons der Musikkapelle», um den Anwesenden vorzuwerfen, Champagner zu «saufen», «während die Bewegung ohne Bunker friert».
Was hier Anfang 1971 in Zürich passiert, ist nicht einfach nur eine Reaktion auf eine Räumung. Es zeugt vielmehr von der damaligen Politisierung von Lehrlingen und Schüler:innen. Marco Rimoldi erinnert sich: «Wir haben am Fernsehen gesehen, was die USA in Vietnam machen, das hat viele empört; auch wie die Studentenproteste in den USA, aber auch hier zusammengeschlagen wurden.» Rimoldi selber wurde 1968 als siebzehnjähriger Mittelschüler beim sogenannten Globuskrawall verhaftet und musste auf der Uraniawache zusammen mit anderen Verhafteten durch ein Spalier von Polizeibeamten laufen, die mit ihren Knüppeln auf sie einschlugen.

Anfang 1971 wird auch die «Heimkampagne» gegründet, ein Kind der neuen Bewegung, das Jugendliche in Heimen unterstützt. So besuchen immer wieder Gruppen von Jugendlichen die Arbeitserziehungsanstalt in Uitikon, um mit den sogenannten Zöglingen zu diskutieren. Die Heimleitung versucht, diese Kontakte möglichst zu verhindern. Die Kampagne fordert etwa die Aufhebung des Arbeitszwangs und repressiver Strafsysteme.
Schliesslich türmt eine Gruppe von siebzehn Insassen aus Uitikon. Einige davon fährt Rico Rimoldi zu Freunden ins Toggenburg, wo sie sich verstecken. Am nächsten Tag jedoch steht die Polizei vor der Kommune Hegnau. Zusammen mit seinem Bruder Marco und weiteren Genoss:innen wird Rico verhaftet und muss für drei Wochen in Untersuchungshaft. Insgesamt ermittelt die Polizei im Zusammenhang mit der Massenflucht gegen 55 Personen wegen Begünstigung, Entziehen und Vorenthalten von Unmündigen sowie Hausfriedensbruch, Landfriedensbruch und Sachbeschädigung. 17 werden schliesslich vor Bezirksgericht zu Geldbussen und bedingten Gefängnisstrafen verurteilt.

Am 1. Mai 1971 kommt es in Zürich zu schweren Strassenschlachten mit der Polizei. Über tausend Personen marschieren nach dem offiziellen Umzug vor das US-amerikanische Generalkonsulat und danach vor das spanische Konsulat. Darunter befindet sich eine grosse Zahl Aktivist:innen der Bunkerbewegung, aber auch viele «Fremdarbeiter», wie Arbeitsimmigrant:innen damals genannt wurden. Spanien ist zu diesem Zeitpunkt eine Diktatur unter General Franco. Die Polizei setzt gegen die anrückenden Demonstrant:innen Tränengas und Gummiknüppel ein, diese gehen mit Holzlatten gegen die Uniformierten vor. Später verlagern sich die Auseinandersetzungen vor das Hauptgebäude der NZZ. Im Nachgang wird Guy Barrier als «Rädelsführer» verhaftet und für zwei Monate in Untersuchungshaft genommen (vgl. «Der Grossbürger und die jungen Frauen»).

Rolf Thut, auch er Mitglied der Kommune Hegnau und der SK, ist so etwas wie der intellektuelle Kopf der Bewegung. Als Redaktor des «Focus» analysiert er die Rebellion der Jugend in marxistischer Terminologie als «Ausdruck des Widerspruchs zwischen den modernen Produktivkräften und den überholten Produktionsverhältnissen». Die Jugend werde demnach in der Schule und bei der Arbeit in autoritäre Strukturen gezwungen, diszipliniert und kontrolliert. Sie fühle sich deklassiert. Ihr Kampf um Autonomie antworte auf die repressive Gesellschaft.
In der Schweiz sind die Behörden der Stadt Zürich mit ihrem rabiaten Vorgehen gegen die unangepasste Jugend eher ein Sonderfall. In Biel etwa beschliesst das Stadtparlament bereits 1968, den Jugendlichen einen alten Gaskessel als AJZ zu überlassen. Es besteht bis heute. Die Basler Behörden stellen sich Anfang 1971 hinter einen neu eröffneten Jugendtreffpunkt am Claragraben 123. Eine bereits beschlossene Kündigung wegen Lärmklagen aus der Nachbarschaft wird wieder zurückgezogen, um die Jugend «nicht zu verketzern und zu radikalisieren», wie es heisst. Als es Anfang 1972 dennoch zur Kündigung kommt, besetzen die Aktivist:innen die Liegenschaft und können noch rund ein Jahr dort bleiben. Zudem wird zwischenzeitlich auch eine Liegenschaft am Spalenring von der «Autonomen Jugend Basel» besetzt.

Der St. Galler Pius Frey – auch er wird später ein Roter Stein – macht damals eine Lehre in einem Basler Chemiebetrieb und ist in seiner Freizeit meist am Claragraben anzutreffen: «Wir haben uns einen wunderbaren Raum gestaltet, wo wir Disco machen konnten. Wenn ich auflegte, war es meist proppenvoll.»
Die Basler Behörden wollen damals eine «Bunkersituation» wie in Zürich unbedingt verhindern, das zeigen Dokumente aus dem Staatsarchiv Basel. Doch von Toleranz kann keine Rede sein. Wie auch in Zürich fertigt die Basler Polizei ein Register von Wohngemeinschaften an, die damals generell «Kommunen» genannt werden. «Das Überhandnehmen von Kommunen erfordert gebieterisch behördliche Massnahmen, damit Basel nicht noch mehr zum Eldorado lichtscheuer Elemente wird», ist dem Protokoll einer Sitzung zwischen Polizeikadern, Staatsanwaltschaft und weiteren Behördenmitgliedern Ende 1971 zu entnehmen. «Das lichtscheue Pack bleibt jeglicher Kontrolle entzogen», moniert einige Zeit später ein leitender Staatsanwalt in einem Brief zum «Kommunenproblem». Nach einer Reihe von Sitzungen wird schliesslich eine Verordnung von 1934 über «Schlaf- und Kostgängerei» benutzt, um von den Kommunen das Ausfüllen von Bulletins zu verlangen, wer an welchem Tag dort übernachtet. Sie erlaubt es auch der Polizei, ohne richterliche Anordnung Wohngemeinschaften zu betreten und Personenkontrollen vorzunehmen.
Ob offen oder verdeckt: Die Repression der Staatsapparate gegen eine Jugend, die neue Wege geht, ist ein globales Phänomen. Im August 1970 gründet sich in Westberlin die Rockgruppe Ton Steine Scherben und schafft mit ihrer ersten Single «Macht kaputt, was euch kaputt macht» eine Art Hymne der Bewegung. «Umherschweifende Haschrebellen» protestieren in der Stadt gegen die Drogenrazzien der Polizei. In Italien sind es vor allem junge Arbeiter, die in den grossen Automobilfabriken mit Streiks, aber auch Sabotageaktionen und massenhaftem Krankmelden die Produktion lahmlegen. In den USA bringt Jerry Rubin mit dem Buch «Do It!» das Lebensgefühl der weissen politisierten Hippies auf den Punkt, während die Black Panther Party selbstorganisierte, revolutionäre Strukturen für die afroamerikanische Bevölkerung aufbaut.
Die Bunkerpartei
In Zürich stossen die Aktionen der Bewegung bei den etablierten Parteien, aber auch bei den bürgerlichen Zeitungen auf vehemente Ablehnung. Die NZZ verwendet in ihrer Berichterstattung und in ihren Kommentaren immer wieder das Wort «Terror». Schon Mitte Januar 1971 ist dort zu lesen: «Wer mit Mitteln des Terrors zu operieren versucht, der braucht sich nicht zu wundern, wenn der bereits überlang strapazierten Geduld eines Tages der Faden reisst.» Eine unverhohlene Aufforderung an die Polizei, gewalttätiger gegen die Bewegung vorzugehen. In einem Strategiepapier von Rolf Thut aus dieser Zeit ist vom «beginnenden Staatsfaschismus» die Rede.
Anfang Februar 1971 lädt die SK führende Köpfe der Bunkerbewegung zu einer Sitzung ein. Ziel ist die Gründung einer Kaderorganisation, in der «revolutionäre Disziplin» herrschen und «die Psycho-Flips, Hang-ups, Intrigen und sonstiger individueller Scheiss in der gemeinsamen revolutionären Aktivität» überwunden werden sollen.
Schliesslich wird die Proletarische Kampforganisation (PKO) gegründet, die gemäss einem selbstgezeichneten Schema unter revolutionärem Kampf politische, ökonomische und militärische Aktivitäten versteht. Die PKO vertreibt ab dem Sommer 1971 die «Neue Strassenverkehrsordnung», eine Schrift der Rote-Armee-Fraktion (RAF). 3.50 Franken kostet die Broschüre. Der Kampf gegen den Faschismus könne nicht mit bürgerlichen Spielregeln ausgetragen werden, schreibt Thut in einem Strategiepapier. Die Bereitschaft der Jugend zur Anwendung revolutionärer Gewalt sei gut. «Die proletarische Partei wird daher jeden Ansatz zum gewaltsamen Widerstand der Massenavantgarden wie auch die Ansätze zum Aufbau einer bewaffneten Befreiungsfront in Europa unterstützen.»
Tatsächlich bilden sich in Deutschland und Italien aus den Jugendbewegungen heraus bewaffnete Gruppen. Auch in der Schweiz entstehen klandestine Grüppchen. Schon 1972 fliegt die «Gruppe Bändlistrasse» auf, weil sich ein Mitglied im LSD-Rausch aus dem Fenster einer Zürcher Wohnung stürzt und die Polizei danach dort Waffen und Sprengstoff findet. Kontakt hatte die Gruppe auch nach Hegnau: «Eines Nachts sind sie nach einem Überfall auf ein Munitionsdepot der Stadtpolizei bei uns aufgetaucht», erinnert sich Rico Rimoldi. Sie wussten nicht, wohin mit all dem geklauten Material. «Wir haben dann einen Teil irgendwo vergraben und den Rest ein Tobel hinuntergeschmissen.»
Die PKO bleibt harmlos. Ihre Mitglieder zerstreiten sich innert weniger Monate und lösen die Organisation wieder auf. Die Staatsschutzabteilungen der Zürcher Stadt- und Kantonspolizei sind schon zuvor an Namenslisten, Organisationsschema, Einladungen und Protokolle gelangt und haben alles eilfertig an die Bundesanwaltschaft nach Bern geschickt.