Putins Tisch

84 Raketen feuerte das russische Regime gestern Vormittag auf ukrainische Städte ab. Die Fotos, die aus Kyjiw eintrafen, zeigten eine zerstörte Einkaufsstrasse, eine kaputte Spazierbrücke, einen verwüsteten Park. Einschläge mitten im Alltag, mitten ins Leben. Elf Zivilist:innen sind umgekommen. Die Angriffe zielen auch auf das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen. «Angriffe auf Zivilpersonen oder Zivileinrichtungen sind verboten», heisst es darin.

Die Bilder von gestern rücken den Krieg wieder auf die Titelseiten, erinnern an seine Grausamkeiten. Kurz nachdem der Anschlag auf die russische Brücke zur Krim in den sozialen Medien von vielen gefeiert wurde, als wäre alles ein Computerspiel. So verhält es sich mit Bildern aus dem Krieg, der immer auch ein Krieg der Bilder ist: Mal vermitteln sie Nähe, mal Distanz. Mal rütteln sie auf, mal lassen sie abstumpfen.

Und doch geht mir seit dem 24. Februar eine Sorte Bilder nicht mehr aus dem Kopf, die zu den künstlichsten überhaupt zählen: die von Putin an seinen langen Tischen.

Alexei Nawalny, der inhaftierte Kremlkritiker, hat in seinen Aufdeckungsvideos immer wieder spöttisch auf den fürchterlich schlechten Geschmack von Putin hingewiesen. Schlecht in dem Sinn, dass Putin als oberster Oligarch seinen Prunk unverhohlen zur Schau stellt. Man darf seine Inszenierungen also wörtlich nehmen. Es ist tatsächlich Gold, was glänzt. Und die Tische sind so lang, weil da einer Distanz markieren will.

Oft heisst es psychologisierend, Putin fühle sich in die Enge getrieben. Aber die Distanz, von der diese Bilder künden, ist offenkundig selbstgewählt. Sie betonen die maximale Distanz zum «satanistischen Westen», so Putin jüngst in einer Rede, Distanz zur Geschichte, die kriegerisch neu geschrieben wird – Distanz zu anderen Menschen letztlich, die wahllos in den Krieg eingezogen oder bombardiert werden können.

Dieser Zynismus kann einen ohnmächtig zurücklassen. Oder dazu führen, die eigene Distanz zum Krieg zu verkleinern: mit Hilfslieferungen in die Ukraine, mit der Unterstützung der russischen Opposition, bei der Aufnahme von Geflüchteten. Das gilt auch für die offizielle Schweiz. Wenn sie nicht von ihrer eigenen Geschichte Abstand nehmen will, fordert sie die konsequente Einhaltung der Genfer Konventionen.

Präziser beobachtet keiner: Der Wolf Lonely Lurker schleicht im «Zoo» auf woz.ch jeder Fährte nach.