Oh, eine Lichtung!

Das Schauspielhaus Zürich sei zu «woke», vertreibe mit einer radikalen Identitätspolitik sein Stammpublikum, sagen jetzt viele. Rechte vor allem, aber viele Journalist:innen finden die Frage offenbar auch ganz faszinierend. Camille Lothe, Präsidentin der SVP Stadt Zürich, durfte im «Tages-Anzeiger» im Streitgespräch mit dem linken Theaterregisseur Milo Rau ihre halbgaren Thesen zum angeblich volksvergessenen Stadttheater ausführlich ausbreiten. Na ja.

Hab mich gestern wieder mal vor Ort umgesehen, im altehrwürdigen Pfauen. Es lief kein Theater, aber ziemlich «woke» wars trotzdem: Ein Schwarzer Mann in einem Rüschenrock stand da auf der Bühne, der sich selbst als «sprechdivers» bezeichnet. Er stottert und hat diese Beeinträchtigung seiner Sprachfähigkeit zum Zentrum seiner Musikkunst gemacht. Man liest es schon in seinem Namen: JJJJJerome Ellis. Ideologie habe ich an dem Abend keine gesehen, aber Ellis’ wunderbare Stimme gehört, sie wirkt – ja, man kann das sagen – unmittelbar heilend. Und ihm dabei zugesehen, wie er – allein auf der Bühne – Saxofon und Klavier spielte, dann noch Hackbrett, virtuos und zart.

Nach dem Konzert gab es einen kurzen Talk im Foyer. JJJJJerome Ellis, der auch Musikwissenschaftler ist und an der Universität Yale Sounddesign unterrichtet, teilte ein paar seiner anregenden Gedanken. Etwa, wieso er sein Album und das begleitende Gesangsbuch «The Clearing» genannt hat: weil er die aufgezwungenen Pausen in seinem Sprechen nicht als Fehler, sondern eben als Lichtungen sehen will, als Räume, die sich ihm überraschend auftun. Hier macht er sogar eine Verbindung zu in den USA versklavten Schwarzen, die in die Wälder geflüchtet waren, um den geteilten Schmerz in Musik zu binden.

Manchmal gehen sogar in einer Fragerunde Räume auf. So auch im Foyer des Pfauen, wo sich eine Frau zu Wort meldet, die bis vor kurzem Präsidentin einer internationalen Stotter:innen-Organisation war. Ellis ist entzückt und verspricht, zum nächsten Weltkongress zu kommen.

Die Konzertreihe «Graveyard Shift» im Schauspielhaus, eine Zusammenarbeit mit dem Musikclub Bad Bonn in Düdingen, wird bis ins nächste Jahr hinein fortgesetzt. Ist generell sehr zu empfehlen!

Präziser beobachtet keiner: Der Wolf Lonely Lurker schleicht im «Zoo» auf woz.ch jeder Fährte nach.