Pop: «Do whatever the fuck you want to»
Die Produzentin Lotic und ihr theatralischer Körperpop sind auf dem Dancefloor genauso gefragt wie im kulturbürgerlichen Theatersaal. Ein Treffen mit der Künstlerin vor ihrem Konzert im Schauspielhaus Zürich.
Durch den Pop unserer Zeit fliesst das Wasser. Die verarbeiteten Körper- und Identitätsfragen werden mittels Wassermetaphorik aufgeworfen und weitererzählt, es ist das Eintauchen in eine Unendlichkeit von Bedeutungsmeeren, durchlässig, mäandrierend, fluid, liquid oder englisch «lotic», fliessend.
Genauso nennt sich die Musikerin Lotic. Ihr erstes Album hat sie «Power» genannt, ihr jüngstes «Water». Eine Kürzestdiskografie, als wollte sie die drängenden Nöte unterdrückter Stimmen – Afrofeminismen, Transnarrative, Nonbinaritäten – nach zwei Fluchtpunkten ausrichten: hier das Agitatorische, Aktivistische und Gesellschaftliche, die Macht – da das bald Esoterische, die Innensicht, der individuelle Körper, wie er sich zum poetischen Universum ausdehnt. Oder zum Meer.
Wir sitzen vor dem Schiffbau. «Ich hatte einen Kunstnamen, sonst nichts: keine Musik, keine Show, kein Garnichts», sagt Lotic aufs Kassettengerät. Vor über zehn Jahren verliess sie die Vereinigten Staaten und ging einigermassen ahnungslos nach Berlin, da habe sie sich den Namen ausgesucht. Es ist ein Dienstagnachmittag, die Frühlingssonne meint es gut mit dem kargen Plätzchen postindustrielle Stadt im Zürcher Kreis 5. Zufällig kommt hier zusammen, was schon die untergegangene Industrie umtrieb: Wasser, Strom, Macht. Auf der Parzelle, die die einst weltweit grösste Herstellerin von Wasserkraftturbinen bewirtschaftet hat. Wo bis ins Jahr 1914 regelmässig ganze Dampfschiffe durch das gusseiserne Tor geschoben wurden, bevor englische Tourist:innen darauf über die Binnengewässer der Schweiz schaukelten.
Es riecht komisch
«Wo ich herkomme, da schwitzt man die ganze Zeit, man hat immer eine Schicht Schweiss auf seiner Haut, wie eine zweite Haut. Aber die Geschichte mit dem Wasser klingt auch irgendwie abgedroschen, nicht? Recht ‹corny›.» Lotic betont «corny» in diesem Zweistufensingsang, typisch amerikanisch und typisch gay. Dann schickt sie dieses Lachen hinterher, das sich immer auch über sich selbst lustig machen kann. Es sei auch ihr Lachen, das die Leute hier in Europa oft verschrecke: «Immer drehen sich alle um, im Supermarkt, in der U-Bahn, die Leute starren mich an, als hätte ich irgendein Problem. Als fragten sie: Wer bist du?»
Natürlich hat Lotic nicht nur irgendein Problem. J’Kerian Morgan, so heisst sie vor dem Amt, ist 34 und erlebt in diesem Frühling «den professionellen Schock», wie sie es nennt. Als DJ und Performerin ist sie derzeit äusserst gefragt, gleichzeitig in eine deutsch-französische Theaterproduktion an der Volksbühne involviert – und nebenher stapeln sich Probleme mit den Behörden in Berlin, das Bankkonto sei eingefroren, alles gehe Schlag auf Schlag. Und alles sei ein bisschen «too much». «Es ist der Schock, den ich wollte. Und dann hab ich ihn gekriegt. Aber ich bin sicher, da kommt noch viel mehr», sagt sie, sich ihrer begehrten Position im Spiel um Aufmerksamkeit bewusst, nimmt einen letzten Schluck aus der Bierflasche. Später am Abend wird sie auf der Bühne im Schiffbau einen erstaunlichen Auftritt geben.
Dass im Theaterprogramm Platz für einen Konzertabend ist, dafür sind die Erfinder des Formats «Graveyard Shift» verantwortlich: Mathis Neuhaus vom Schauspielhaus und Daniel Fontana vom Konzertlokal Bad Bonn in Düdingen. Die Reihe, während der Pandemie als nachtwache Radiosendung konzipiert, wird nun als Publikumsveranstaltung weitergeführt. Sie erforscht dem Theaterbetrieb entlegene Bereiche: Popmusikavantgarde, musikalische Performances, Lesungen, Clubmusik.
Dazu steht ihnen im Schiffbau heute die Box zur Verfügung, eine in ihrer Gestaltlosigkeit ganz der Darbietung verschriebene Betonkiste, der alten Fabrik von Escher und Wyss in den Bauch gebaut. Und wie die Patrons vergangener Industrien scheint auch der Kulturbetrieb auf das fliessende Wasser angewiesen, den hydrodynamischen Ausdruck der Diskurse, seiner Stimmen und Positionen. Er muss sie einfangen und statuieren. Das heisst in postindustrieller Übertragung nichts anderes als stauen, um die Turbinen der zeitgemässen Kulturfabrik drehen zu lassen, daraus Elektrizität zu gewinnen, Power – was im besten Fall Energie meint oder noch besser: Raum macht, Platz schafft, die Zeit für andere anhält, die ihre Batterien am Stromkreis der Hochkultur aufladen dürfen. Mindestens eine Gage lang. «Hier wollte ich hin», das sagt Lotic, «aber es fühlt sich komisch an. Es riecht komisch. Es riecht nicht, wie es in einem Backsteingebäude riechen sollte, irgendwie parfümiert.»
Später am Abend: Lotic drückt Play. Die Bläser blasen in Trompete, Tuba, Flügelhorn, sie sitzen am linken Bühnenrand, verschroben wie drei entlaufene Orchestermusiker. Das ist die Ausgangslage und eine von drei verschiedenen Performances, die Lotic dem Betrieb anbietet. Wenn sie Play drückt, zappeln Beats aus den von der hohen Decke hängenden Lautsprechern, donnern Bässe aus dem Club, von einem weit entfernten Dancefloor. Das trockene Blechbläsertrio ist vielleicht eine Anspielung auf New Orleans und seine marschierenden Begräbnisbands. Es scheint schön verloren in diesem Sound, der sich in der Betonkiste immer noch wie der Soundteppich eines dystopischen Theaterstücks anfühlt, durchsichtig und fragmentiert. Die Darstellung von Nachtleben, nie das Nachtleben selbst.
Ringen um Augenhöhe
In diese seltsamen akustischen Löcher hinein stolpert Lotic, graziös, und stimmt ihre fürs Album «Water» erfundenen Körperpoparien an: «Emergency, please fuck me?» Sie singt dabei manchmal am Mikrofon vorbei, öfter bei den himmelhohen Tönen, als wollte sie überhaupt etwas ganz anderes avisieren als die Reinheit des Gesangs. Sie singt die schönsten schiefen Töne im sterilsten Raum der Welt. Sie beschwört das Scheitern als Königin der Lust. Zwischen den Stücken, die manchmal auf halbem Weg abstürzen, einmal gar nicht recht anlaufen wollen, spricht sie mit dem Publikum, macht derbe Sprüche, über die niemand so richtig lachen kann. Oder geht es hier um die Frage, ob ein weiss-privilegiertes Publikum darüber überhaupt lachen sollte? «Ich bin Schwarz, trans und aus Houston, Texas, damit müsst ihr klarkommen», sagt Lotic am Anfang des Konzerts, «jetzt holt euch einen Drink, und lasst uns zusammen eine gute Zeit haben.»
Was sonst könnte man tun? «This world is bullshit and you should do whatever the fuck you want to», sagt sie am Nachmittag aufs Band, solange man sich noch die Mühe machen würde, niemandem wehzutun. Vielleicht wird diese Mühe im Publikum spürbar, wie ein Ringen: um Vorsicht, aber auch um Augenhöhe und Entkrampfung, um das Überwinden einer Distanz, die in der urbanen, sich ihrer eigenen Privilegien bewussten Schweiz nicht in Meilen, sondern in Millimetern bemessen scheint – und dadurch plötzlich unüberwindbar wird. In den Bedeutungslöchern, die das Konzert aufgerissen hat, kommt die Kunst ungebändigt ins Schwingen, sitzen die Fragen mit dem Publikum auf den Stühlen.
«Danke, dass ihr bei unserer Probe dabei wart», sagt Lotic zum Schluss. Und erzählt damit auch davon, wie wenig Zeit zum Proben und Elaborieren noch bleibt, wenn die Kulturfabriken in Zürich und Berlin alle gleichzeitig ihre Turbinen anwerfen, um das eigentlich unfassbar Fliessende auf der Durchreise kurz anzustauen – und auszuwerten.