Zum Jahresende: Lesen ist für alle!
«Ich lese nicht so oft.» Nachdem sie diesen Satz geäussert haben, schauen mich die meisten Leute ein wenig verschämt an. Dabei ist es kein Wunder, dass viele aus der migrantischen Unterschicht keine Bücher lesen. Wir sind zu Hause nicht mit einer Bibliothek aufgewachsen, die Welt der Literatur wirkt auf uns fremd und elitär. Das liegt vor allem daran, dass sie es auch wirklich ist. Es sind Menschen aus dem Bildungsbürgertum, die Verlage führen und Preise vergeben. Sie entscheiden, was publiziert und was gelesen wird. Dass dabei unsere Erfahrungen und Geschichten selten vorkommen, verwundert nicht.
In meiner Jugend musste ich in der Schule vor allem Bücher der Hochliteratur lesen. Auch wenn ich Schiller und meinen Deutschlehrer geliebt habe, eröffnete sich mir eine ganz neue literarische Welt, als ich mich mit zwanzig auf eigene Wege begab und Autor:innen fand, deren Inhalte und Sprache mich berührten und prägten. Vor allem die Bücher von Schwarzen Autor:innen aus den USA waren für mich eine Erleuchtung! Ich denke dabei an die Romane von Maya Angelou und Toni Morrison, aber auch an die Autobiografie von Malcolm X.
Jedenfalls: Lesen ist für alle! Man muss nur die passenden Bücher finden. Auch in der deutschsprachigen Literatur verändert sich allmählich etwas: Die Kinder der Gastarbeiter:innen sind gross geworden, und sie haben den Stift in die Hand genommen, um die Geschichten ihrer Grosseltern, Eltern und ihrer selbst zu erzählen. Endlich. Zum Jahresabschluss möchte ich hier drei unvergessliche Bücher empfehlen, die ich dieses Jahr gelesen habe. Ich habe nachgedacht, gelacht und geweint. Hier sind sie:
Mely Kiyak: «Frausein», 2020
Ich liebe diesen Titel! Mely Kiyak erzählt über ihre Kindheit in Deutschland als Tochter kurdischer Eltern, von der Armut und der Mutter, die das Gerichtsgebäude putzt, und über den Richter, der ihnen die Sandwiches gab, die er selbst nicht mehr essen wollte. Sie reflektiert die Liebe zu ihrem Vater und ihren Bildungsaufstieg, der sie von dieser Liebe auch ein wenig trennt. Sie erklärt, was «güzel» wirklich bedeutet. Sie schreibt über ihr erstes Mal und ihren Körper. Über die Liebe ihres Lebens und ihren Willen zur Freiheit. Sie wird diesem allumfassenden Titel mehr als gerecht und beschreibt mit Feingefühl das Frausein und vor allem das Frauwerden. Und für alle Männer, die nun denken, «Das ist sowieso nichts für mich»: Unbedingt lesen.
James Baldwin: «If Beale Street Could Talk» (auf Deutsch: «Beale Street Blues»), 1974
Man sollte nicht von dieser Welt gehen, ohne James Baldwins Bücher gelesen zu haben. Dieser Roman ist der Beweis, dass es nichts Schöneres gibt als grandios erzählte Liebesgeschichten. Hier habe ich auch die zärtlichste und beste Metapher für den Akt der Liebe gefunden. In Zeiten der Unterdrückung wird selbst die Liebe den politischen Umständen unterworfen. Die junge Tish kämpft um ihren unrechtmässig inhaftierten Freund Fonny. Werden sie es schaffen? Werden sie wieder vereint sein? Eine Lovestory aus dem Harlem der 1970er, so wie sie uns nur Baldwin erzählen kann.
Necati Öziri: «Vatermal», 2023
Für alle 90er Kids, die Hip-Hop lieben. Und für alle anderen auch: Arda liegt im Spital im Sterben und schreibt einen Brief an seinen abwesenden Vater, der die Familie verlassen hat und zurück in die Türkei gegangen ist. Er schreibt über seine Kindheit, über das ewige Warten im Ausländeramt und die Angst. An seine überforderte Mutter Ümran, die versucht, ihre Kinder so gut wie es geht zu lieben. An seine Schwester Aylin, die sich von der Mutter und der Ausweglosigkeit emanzipieren will. Und über das Heranwachsen als junger migrantischer Mann in Deutschland. Ich habe noch nie einen schöneren und traurigeren Satz gelesen über abwesende Väter: «Ihr seid vielleicht abgehauen, aber wir konnten euch nicht entkommen.»
An dieser Stelle lesen Sie immer freitags einen Text unserer Kolumnistin Migmar Dolma. Dolma ist Gewerkschafterin bei der Syna, im Vorstand des postmigrantischen Thinktanks Institut Neue Schweiz und aktiv in der tibetischen Unabhängigkeitsbewegung. Sie ist 32 Jahre alt und lebt in Olten.