Kino-Film «If Beale Street Could Talk»: Im Sog der kreisenden Kamera
Die erste Verfilmung eines literarischen Werks von James Baldwin ist ein Glücksfall: «Moonlight»-Regisseur Barry Jenkins macht nicht zuletzt klar, wie aktuell der Roman «If Beale Street Could Talk» geblieben ist.
Fast wäre er in Vergessenheit geraten, dabei war James Baldwin einer der ganz grossen schwarzen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts. Dann transponierte der US-Autor Ta-Nehisi Coates mit «Zwischen mir und der Welt» (2015) Baldwins Brief an seinen Neffen aus «The Fire Next Time» (1963) ins 21. Jahrhundert. Ein Jahr später zeigte Raoul Peck mit seinem Dokumentarfilm «I Am Not Your Negro» erneut die Aktualität von Baldwins politischem Denken auf, anhand eines unvollständig gebliebenen biografischen Manuskripts des Schriftstellers über den Rassismus in der US-Gesellschaft. Und jetzt kommt Barry Jenkins und lässt uns mit seinem Film «If Beale Street Could Talk» an der Wiederentdeckung von Baldwins literarischem Erbe teilhaben.
Zeitlupen und Abgründe
Jenkins hat sich dem 1974 publizierten Roman mit grossem Respekt genähert und sich eng an die Vorlage geschmiegt. «If Beale Street Could Talk» erzählt vom Triumph der Liebe: der Liebe zwischen der 19-jährigen Tish (Kiki Layne) und dem 22-jährigen Fonny (Stephan James) aus Harlem, der unschuldig im Gefängnis sitzt, während Tish ein Kind von ihm erwartet. Gemeinsam mit ihrer Familie setzt sie alle Hebel in Bewegung, um ihn herauszuholen. Die Geschichte wird in Rückblenden aus Tishs Perspektive aufgerollt und ist ganz auf die emotionale Achterbahnfahrt der beiden fokussiert.
Das tönt nach einer Steilvorlage für Kitsch. Tatsächlich aber haben hier zwei Autoren zusammengefunden, die diese Gefahr mit ihrer je eigenen künstlerischen Sprache souverän sublimieren – und dabei das Politische auf den tieferen Frequenzen stets mitschwingen lassen.
«Jeder in Amerika geborene Schwarze ist in der Beale Street, ist im Schwarzenviertel irgendeiner amerikanischen Stadt geboren, ob in Jackson, Mississippi, oder in Harlem in New York: Alle ‹Nigger› stammen aus der Beale Street.» So steht es im Vorspann zu Buch und Film. «Beale Street Blues» ist zudem der Name eines Jazzklassikers von 1916, und diese grosse schwarze Musiktradition, die wie keine andere Tragik und Leid mit Schönheit und Poesie vereint, gibt auch den Ton der Erzählung an. Was sich bei Baldwin im rhythmischen Duktus und in allegorischen Sprachbildern entfaltet (beides bleibt dank der herausragenden Neuübersetzung von Miriam Mandelkow auch im Deutschen erhalten), zeigt sich bei Jenkins im subtilen Einsatz von Musik, Licht und Farbe und in einer hypnotischen Kameraführung und Montage.
Es ist eine Langsamkeit und Eindringlichkeit, die man bereits aus dem schwulen Coming-of-Age-Drama «Moonlight» (2016) kennt, wo die Kamera immer wieder auf den Gesichtern seiner oft schweigenden Protagonisten ruht, ohne dabei voyeuristisch zu werden. In «If Beale Street Could Talk» sind die langen Einstellungen geblieben. Die Kamera aber entwickelt eine Dynamik, die sie zu einer eigenständigen Erzählinstanz werden lässt, zu einer Art visuellen Souffleuse, die Verborgenes an die Oberfläche trägt. Immer wieder verlangsamt sie die Handlung zu Zeitlupe, umkreist die Figuren wie in einer rituellen Beschwörung.
Zum Beispiel Fonny, wie er in seiner Bude um den grossen Brocken Holz geht, ihn aus jeder Perspektive betrachtet, überlegt, wo er Hammer und Meissel ansetzen soll, um eine neue Skulptur Gestalt werden zu lassen. «Ich habe zwei Dinge im Leben – ein Schnitzmesser und Tish», sagt er irgendwann. «Ohne sie bin ich verloren.» Die kreisende Kamera entwickelt einen Sog, lässt Fonny eins werden mit dem Holz und schirmt ihn gleichzeitig von der Aussenwelt ab. Und wir bangen um ihn, wenn wir ihn das nächste Mal hinter dem Glasfenster sehen, das ihn im Gefängnis von Tish trennt – und von seiner Kunst.
Der lauernde Rassismus
Vorsichtig, geradezu zärtlich mutet es auch an, wenn die Kamera in den Rückblenden das Liebespaar nah und näher umrundet. Einspinnt in einen Kokon, um es vor der Welt da draussen zu schützen. Doch seit wir Fonny zum ersten Mal hinter der Glasscheibe in Gefängniskluft gesehen haben, zweifeln wir, ob dieser Kokon tatsächlich Schutz bieten kann. Überhaupt: Ist das Kreisen der Kamera nicht irgendwie auch ein Umzingeln der Figuren? Eine Warnung, dass es aus dem Rassismus, der sie umgibt, kein Entrinnen gibt?
Zwar bricht er nur einmal so richtig wuchtig und unvermittelt in ihr Leben ein, in Gestalt von Officer Bell, einem weissen Polizisten, und da sind bereits 75 Minuten im Film verstrichen. Aber wir erkennen sofort: Hier nahm das Unglück seinen Ausgang. Der strukturelle Rassismus hat sich längst in jeder Pore der US-Gesellschaft festgesetzt. Schwarze besitzen keine Rechte, die Weisse zu respektieren verpflichtet sind. Diese Urteilsbegründung von Chief Justice Roger Taney gegen den Sklaven Dred Scott aus dem Jahr 1857 gilt bis heute. Auf die Sklaverei folgten Segregation und Lynchjustiz, heute ist es das Gefängnissystem, das Taneys Diktum fortschreibt.
Das war in der Aufbruchstimmung der frühen Siebziger, auf dem Höhepunkt von Black Power und Black Pride, wie es die Blaxploitationfilme zelebrierten, so noch nicht abzusehen. Erst rückwirkend erkennen wir – nicht zuletzt dank Jenkins –, wie hellsichtig Baldwin war. Aber sein «If Beale Street Could Talk» ging im schrillen Lärm unter. Denn die Figuren tragen ihre politischen Überzeugungen nicht als Lippenbekenntnisse mit sich herum. Welch existenzielle Bedrohung der Rassismus im Alltag darstellt – angefangen bei der fehlenden Verfügungsgewalt über den eigenen Körper –, wird bei Baldwin vielmehr in den Abgründen zwischen den Worten und Zeilen deutlich, von Jenkins grandios übertragen in schweigende Blicke und Unausgesprochenes, das nur in der Angst in den Augen der Zuhörenden ahnbar wird. Bei Daniel etwa, einem alten Freund, den Fonny in seine Bude mitnimmt: Eigentlich feiern sie ihr Wiedersehen mit Bier und Zigaretten, doch irgendwann schwappt der Horror von zwei Jahren Gefängnis über Daniel und droht beide zu ertränken.
Weit weg vom Klischee
Doch für Rassismus als Triebkraft der Handlung gibt es in «Beale Street» keinen Platz. Im Zentrum steht vielmehr der Kampf der Figuren um Würde und Menschlichkeit. Und genau deshalb spielt auch die Liebe eine so zentrale Rolle. Nur wenn die Liebe zwischen Tish und Fonny unerschütterlich bleibt, haben sie eine Chance – und das kann nur gelingen, wenn alle um sie herum, Familie und Freunde, all ihre Liebe und Kraft geben, diese Liebe zu stützen und zu beschützen. Aus dieser Prämisse entspinnt sich das Drama im Film. Vor allem, wenn diese Liebe verweigert wird, wie im Fall von Fonnys Mutter, die sich in ihrem religiösen Wahn lieber Gott hingibt.
Wie James Baldwin seine Figuren über die Liebe zeichnet, muss damals, im Zeitalter von «Black Macho» und «Superwoman», wie aus der Zeit gefallen gewirkt haben – dabei war Baldwin, der nicht nur schwarz, sondern auch schwul war, seiner Zeit weit voraus. Bei ihm dürfen Männer weinen, sich festhalten, umarmen. Barry Jenkins schafft es, solchen Szenen eine Selbstverständlichkeit weit weg von Klischees zu verleihen.
Nur einmal – und das ausgerechnet zum Schluss – irritiert sein Umgang mit der Vorlage. Wo bei Baldwin Tod und Geburt in einem Schrei kulminieren, der Verzweiflung, Wut und Hoffnung zugleich ausdrückt und weit über die Liebe zwischen Tish und Fonny hinausweist, insistiert der Film auf dem Bild der Liebenden. Bloss, ist das auch ein Sieg? Vielleicht hat Jenkins ja dem Pathos am Ende des Buchs misstraut. Ein ganz klein bisschen hat er mit seiner Schlussszene aber auch die Vorlage kastriert. Und das ist schade.
Eine neue deutsche Übersetzung von James Baldwins Roman erschien 2018 im dtv-Verlag unter dem Titel «Beale Street Blues».
Ab 14. Februar 2019 im Kino.
If Beale Street Could Talk. Regie: Barry Jenkins. USA 2018