Literatur: Gras in den Socken, Rap in den Ohren

Nr. 40 –

Buchcover von «Vatermal»
Necati Öziri: «Vatermal». Roman. Claassen Verlag. Berlin 2023. 304 Seiten. 35 Franken.

Arda liegt mit Leberversagen auf der Intensivstation; besucht wird er abwechselnd von seiner Mutter und seiner Schwester, die nicht mehr miteinander sprechen. Wenn er allein ist, schreibt Arda einen Brief an seinen Vater, den er nie kennengelernt hat, weil dieser noch vor seiner Geburt in die Türkei zurückgekehrt war: «Du sollst wissen, wer ich gewesen bin. Damit du niemals die Erleichterung fühlst, von der ich so oft heimlich träumte: von einem Toten angeschwiegen zu werden. Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.»

Arda schreibt in Necati Öziris Roman «Vatermal», der eine Adaption von dessen Theaterstück «Get Deutsch or Die Tryin’» ist, gewissermassen um sein Leben. Über seine alkoholkranke Mutter Ümran, die nach einem Erdbeben von ihren Eltern zunächst in der Türkei zurückgelassen und erst Jahre später nach Deutschland geholt worden war. Über seine Schwester Aylin, die Arda beschützt wie eine Löwin und dann doch abhaut. Und über sich selbst, wie er sich auf der Strasse eine neue Familie sucht. Vom Abhängen am Bahnhof einer Kleinstadt im Ruhrpott, immer ein bisschen Gras in den Socken, Kool Savas in den Ohren. Vom stundenlangen Warten auf dem Ausländeramt. Auch die psychische Gewalt und Vernachlässigung durch die Mutter beschreibt er schonungslos, doch stets im Bewusstsein um die Gewalt, die sie selbst erfahren hat. Ümrans Geschichte erzählt er auf eine fast zärtliche Weise, seine eigene in einem härteren Ton.

Öziri hat einen grossartigen Roman geschrieben – traurig, schön, manchmal auch lustig, wütend, verletzlich. Über (Wahl-)Familie, Freundschaft, Liebe, Gewalt, Männlichkeit, Einsamkeit, Tod – kurz: das Leben. Das Leben als Sohn einer Migrantin in Deutschland, als einer jener Jugendlichen, die oft als «perspektivlos» bezeichnet werden, von denen Arda jedoch weiss, dass das Gegenteil stimmt: «Wir hatten zu viel Perspektive, hatten Dinge gesehen, die andere Kinder ihr Leben lang nicht sehen, während sie die Kürbissuppe ihrer Eltern löffeln.» Zu Recht steht «Vatermal» auf der Shortlist des deutschen Buchpreises.