Die Goldenen Zitronen: «Parolen gab es immer schon genug»
Die Goldenen Zitronen haben stets aufs Neue Musik und Protest verbunden. Nun hält die Hamburger Band nach vierzig Jahren Inventur. Wie weiter angesichts der Lage in der Welt und speziell in Deutschland?

WOZ: Schorsch Kamerun, Ted Gaier, Sie haben zum 40. Geburtstag der Goldenen Zitronen eine Kompilation mit vierzig Songs herausgegeben. «Inventur» lautet der Titel, was im Rechnungswesen so viel wie die Vermögensgegenstände und Schulden an einem Stichtag bedeutet. Als Sie für das Album Ihre Songs, Texte und auch Konzertplakate durchgesehen haben: Bei welchen Vermögenswerten hat es Sie am meisten überrascht, dass die noch vorhanden waren?
Schorsch Kamerun: Wenn man sich die Plakate nochmals anschaut, dann ist tatsächlich ein gewisser Bestand zusammengekommen. Wir haben schon grosse Kreise gezogen, was Szenen und Kollaborationen betrifft. Bei der Musik fällt einem über die Jahrzehnte wohl die grosse Bandbreite auf, wir sprechen auch selbst von verschiedenen Phasen. Begonnen hatten wir ja mit Funpunk. Wir haben ein paar dieser frühen Sachen auf die Kompilation gepackt, auch wenn ich sie wirklich nicht mehr gerne höre – so grölig und unbeholfen, wie wir damals oft klangen.
Ted Gaier: Wobei 1984, als wir anfingen, Punk ja eigentlich schon vorbei war. Die ersten beiden Alben sind ein totales Sammelsurium an Musikstilen. Da sind mehr Country-, Rockabilly- und Psychobilly-Stücke als Punksongs drauf, fiel uns neulich beim Durchhören auf. Aber klar, die Spielweise war halt irgendwie Punk.
Kamerun: Wir haben jedenfalls rasch verstanden, dass wir unser Instrumentarium immer wieder aufs Neue öffnen müssen. Ich erinnere mich noch, wie Techno aufkam und es plötzlich schwierig wurde, mit seinem Gitarrenköfferchen in den Club hineinzukommen. Wir haben damals auch Witze gemacht, weil Teds Koffer beim Öffnen immer so quietschte, als sei das Ding nicht mehr so gut geölt. Natürlich konnten wir nicht plötzlich Technoproduzenten werden, aber zumindest Haltungen aus dieser Richtung übernehmen. Deshalb klingt bei den Zitronen vieles zwar nie ganz «amtlich», dafür aber auch selten dogmatisch.
Gaier: Im Rückblick ist das schon irre, in welch unterschiedlichen Umfeldern wir da unterwegs waren. Das sieht man zum einen auf den Konzertplakaten, die wir der Compilation beigelegt haben. Da gab es zum Beispiel gemeinsame Konzerte mit den Toten Hosen, Element of Crime, Chicks on Speed, Gustav. Und zum anderen merkt man es auch an den Songs, mit Gastsänger:innen wie Françoise Cactus, Sophia Kennedy, Mark Stewart, LaToya Manly-Spain oder den Promis und Semipromis beim Song «Für immer Punk». Der war ja eigentlich nur ein Gag und wurde unser bekanntester Hit.
Vierzig Jahre Zitronen
Wer dabei blieb, wurde belohnt: Wie kaum eine deutschsprachige Band haben sich die Goldenen Zitronen in den letzten vierzig Jahren musikalisch und textlich fortentwickelt. In ihren Songs erweisen sie sich bis heute als genaue Checker und Kritiker der politischen Entwicklungen, wobei die eigene Szene stets mitverhandelt wird: ob es nun um die europäische Grenzabwehr geht («Wenn ich ein Turnschuh wär»), neoliberales Standortmarketing («Der Investor») oder die G20-Proteste in Hamburg («Die alte Kaufmannsstadt, Juli 2017»).
Die Musik der Band spielt sich längst nicht mehr im klassischen Songformat, sondern in faszinierenden Soundschlaufen ab. Von den Gründungsmitgliedern der Zitronen sind nur noch Schorsch Kamerun und Ted Gaier mit von der Partie. Zur aktuellen Besetzung gehören zudem Julius Block, Enno Palucca, Stephan Rath und Mense Reents.
Die Jubiläumscompilation «Inventur» ist 2024 bei Buback erschienen.
WOZ: Abgesehen davon haben Sie sich dem musikalischen Mainstream und den grossen Plattenfirmen stets entzogen. Nach der Funpunkphase tönte Ihre Musik zwischenzeitlich wie Rap, dann entwickelte sich der Sound Richtung Krautrock weiter. Warum haben Sie sich vom Dreiminutenrocksong verabschiedet?
Kamerun: Das Bedürfnis nach neuen Songstrukturen entstand um 1990 herum, als es nach dem Mauerfall zu rassistischen Pogromen in Deutschland kam. Da brauchten wir längere und explizitere Texte, um die Ereignisse zu beschreiben. Ein Stück weit kann man sie als dokumentarisch oder journalistisch bezeichnen. Wir haben nach einer musikalischen Form gesucht, wie man die Texte aufführen kann. Ich glaube, Rap war gar nicht so sehr unsere Ambition, Sprechgesang ist vermutlich der treffendere Ausdruck, weil es zu der Zeit für uns nicht mehr gereicht hat, simple Rock-’n’-Roll-Songstrukturen zu nutzen. Wir haben uns dabei auch an Cut-up-Techniken orientiert, wie sie etwa der Beatpoet Rolf Dieter Brinkmann verwendete. Musikalisch haben wir nicht mit «fetten Beats» gearbeitet, sondern eher mit Loops und Clustern, also mit Wiederholungen.
Gaier: Natürlich waren die Beastie Boys oder Public Enemy wichtige Referenzen, weil die auf ihren Platten auch soundmässig die Dringlichkeit der Zeit abgebildet haben. Zu der neuen Art des Textens kam auch eine neue Art des Komponierens. Statt zu Hause vor sich hin zu klampfen und das dann den anderen zu präsentieren, machen wir seit Mitte der Neunziger recht frei drauflos gespielte Sessions, die wir aufnehmen. Daraus nehmen wir einzelne Elemente und verarbeiten sie zu einem Song. Da fliesst natürlich auch all das rein, was die Einzelnen gerade so hören, Minimal Music oder UK Bass – was auch immer.
WOZ: Warum wählten Sie damals eine dokumentarische Form, um die rechtsextremen Anschläge in Solingen oder Hoyerswerda zu beschreiben? Sie hätten ja auch verstärkt auf Parolen setzen können, als Aufruf zum Widerstand.
Gaier: Wir kommen aus einem Umfeld, in dem es schon immer genug Parolen gab. Die ersten Konzerte spielten wir in besetzten Häusern wie der Hamburger Hafenstrasse. In einem solchen militant erkämpften Raum schien es uns völlig überflüssig zu betonen, dass wir zum Beispiel gegen Bullen sind. Statt in Lederjacken sind wir auch in Damenblusen oder Schlafanzügen aufgetreten, mit einer gewissen Lust gegen die Verhärtungen der eigenen Szene vorgegangen. Als dann die sogenannte Wiedervereinigung kam – dieses «friedliche Zu-sich-Kommen der Deutschen in Harmonie» –, fühlte sich das von Tag eins an sehr verwirrend an. Ich war damals zufällig in Berlin. Das Erste, was es am Grenzübergang Friedrichstrasse zu sehen gab, war ein Haufen Skinheads, die den Böhse-Onkelz-Song «Deutsche Frauen deutsches Bier» grölten. All das zu beschreiben, was in diesen Jahren folgte, erforderte eine differenzierte Sprache.
Kamerun: Wir haben erst einmal danach gesucht, wie wir unsere Haltung ausdrücken können. Und sind darauf gekommen, die Songs aus der Perspektive von Figuren zu schreiben, die Szenerien beobachten. Der Song «Das bisschen Totschlag» zeigt das gut, in dem der Refrain eine Normalität im Schrecken behauptet …

WOZ: «Das bisschen Totschlag bringt uns nicht gleich um, sagt mein Mann, hier fliegen nicht gleich die Löcher aus dem Käse, sagt mein Mann», heisst es darin aus der Perspektive einer abwiegelnden Sprechperson.
Kamerun: Genau, es geht um eine Rolle, in die wir als Sänger hineinschlüpfen können, aber es soll keine psychologisch umrissene Theaterfigur sein. Die Erzählung soll eher eine Haltung zum Ausdruck bringen – dass der Sänger zum Beispiel zu einem Meckerer wird.
Gaier: Für mich wurde bei dieser Frage auch Franz Josef Degenhardt ziemlich wichtig. Es gibt zum Beispiel diesen Song «Vatis Argumente», wo Degenhardt in die Rolle eines Wirtschaftswundertypen schlüpft, der über die 68er-Bewegung abhatet und dabei seine eigene autoritäre Prägung entlarvt. Irgendwie merkten wir, es braucht keine Rocksongstrukturen mehr und kein authentisches Sänger-Ich. Der Sänger kann in Rollen schlüpfen und unterschiedliche Haltungen performen.
WOZ: Mich interessiert die Frage nach einer künstlerischen Antwort auf politische Verschiebungen auch angesichts der Gegenwart. Überall in Europa, auch in Deutschland, sind rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien auf dem Vormarsch. Lässt sich die Situation vor 25 Jahren mit der heutigen vergleichen?
Kamerun: Damals gab es auch schon rechte Parteien wie die NPD, die versuchte, sich im Bundestag zu etablieren. Aber es boten sich ihnen noch kaum Möglichkeiten zur Machtbeteiligung. Nun könnte in Österreich erstmals die FPÖ den Kanzler stellen, die AfD in Deutschland erstarkt – und was Elon Musk mit seinem rechten Arm angedeutet hat, weiss man auch noch nicht so genau. Manche Dinge lassen sich schwieriger sortieren. Gleichzeitig ist es im Kern und in der Rhetorik der gleiche Stammtischdreck, den ich schon im Alter von sechzehn als Kfz-Lehrling gehört habe: die pauschale Ablehnung von allem, was irgendwie «fremd», «anders» oder progressiv wirkt. Mit dem Unterschied – und das ist der Horror –, dass sich diese Positionen etablieren.
Gaier: Es ist tatsächlich ähnlich verwirrend wie zu Beginn der Neunziger. Neben Unterschieden gibts auf alle Fälle Parallelen. Am deprimierendsten finde ich, wie nun wieder das Narrativ aktiviert wird, dass die angebliche Volksgemeinschaft von einer «Überflutung durch die Fremden» bedroht sei: also die pauschale Unterscheidung zwischen Ausländern und Einheimischen, was dreissig Prozent dieser Gesellschaft mal eben unter Generalverdacht stellt. Und alle anderen Themen wie Klima- und soziale Gerechtigkeit, Wohnungsnot verschwinden im Nichts. Neu ist vielleicht, dass da eine Partei im Parlament sitzt, die gar nicht mehr so tut, als gebe es universelle Menschenrechte. Die das, was in den Neunzigern Skinheads mit Baseballschlägern durchzusetzen versuchten – nämlich «national befreite Zonen» –, nun mit ihren Remigrationsfantasien im Wahlprogramm stehen hat und genau dafür von anständigen Bürger:innen gewählt wird.
WOZ: Der CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz sorgte im Wahlkampf für einen Tabubruch, weil er einen Antrag gegen Geflüchtete mit den Stimmen der AfD durch den Bundestag brachte. Die Brandmauer nach rechts sei gefallen oder zumindest brüchig geworden, heisst es jetzt allenthalben. Hat Sie dieses Manöver überrascht?
Gaier: Jedenfalls ist es irgendwie folgerichtig, weil Friedrich Merz ja schon länger die gleichen rassistischen Stereotype verbreitet wie die AfD. Wenn er zum Beispiel sagt, dass deutsche Bürger wegen der vielen Asylsuchenden keine Termine beim Zahnarzt bekämen, Kreuzberg nicht Deutschland sei oder wenn er von Sozialtourismus faselt.
Kamerun: Ich bin nicht überrascht. Es gab schon immer Law-and-Order-Reflexe, wenn wieder «etwas passiert» ist, mit dem sich eine Bedrohung oder eine Krise behaupten lässt. Auch dann, wenn die Zahlen deutlich anderes belegen. Insofern ist politischer Populismus durchaus auch CDU-DNA.
WOZ: Wie gehen Sie als Kulturschaffende mit dieser Situation um? Sie haben aus einer Punkhaltung heraus mit immer neuen Methoden die Aneignung, die Subversion, das Dagegensein ausgelotet. Heute hat man den Eindruck, die Rechten hätten alle diese Techniken übernommen. Sogar mit Kostümen treten die gerne in Erscheinung.
Kamerun: Wobei ihre Kostüme dann doch sehr eindeutig sind, wenn wir etwa an den «Schamanen» beim Sturm aufs Kapitol denken. Da geht es ja nicht um Irritation, erst recht nicht gegenüber den eigenen Leuten. Grundsätzlich bietet der Populismus einfache Erklärungen in einer vermeintlich überkomplexen Welt an. Deshalb sollten wir unbedingt nicht unterkomplex reagieren. Wir Goldies haben jedenfalls weiterhin nichts gegen Kompliziertes, Vielschichtiges.
Gaier: Tja, die Unflätigkeit hat die Seite gewechselt. Früher waren wir Punks unflätig, heute versuchen wir, Institutionen zu retten, von denen wir ja gar nicht so überzeugt waren – und Alice Weidel performt den Stinkefinger. Irgendwie bin ich ratlos, was die Wirkung von politischer Kunst anbelangt, auch wenn es um die Wahl der Mittel geht. Jedenfalls, wir müssen uns nichts vormachen, was da noch alles auf uns zukommt: Wenn die AfD an der Macht ist, gehts in der Kulturpolitik Richtung Brauchtum.
Kamerun: Das wird uns direkt betreffen. Ich bin als Theatermacher natürlich längst auch ein Staatsknete-Künstler. Ich kann deshalb auch keine pur autonome, ausserparlamentarische Stellung für mich reklamieren. In diesem Zusammenhang fand ich es zumindest interessant, dass einige Kulturschaffende in Berlin nach der Abspaltung von Sahra Wagenknecht strategisch in Die Linke hineingegangen sind, um diese als reformierte Partei mitzugestalten, auch um verantwortungsvolle Instrumente zu erlangen. Das fand ich als Diskursvorschlag durchaus nachvollziehbar, habe selbst aber noch nichts unterschrieben …
Gaier: Ich habe mittlerweile wirklich Mitgefühl mit Robert Habeck. Ich meine, der wollte einfach nur eine Energiewende unter reformistischen, kapitalistischen Bedingungen. Was halt so geht in der Realpolitik, und dann wird er derart an die Wand gestellt. Was mir doch noch Hoffnung macht, ist die Erinnerung an die riesigen Demos von Black Lives Matter oder auch die Klimaproteste. All die Leute sollten ja noch irgendwo sein. Ganz zu schweigen von den Millionen, die von der rassistischen Politik persönlich betroffen sind.
WOZ: Kommen wir nochmals auf Ihr Bandjubiläum zurück: Sie haben nicht nur Inventur gehalten, sondern auch zu «zauberhaften Ballnächten mit den Goldenen Zitronen und ihren Genoss:innen» geladen. Wie war es?
Kamerun: Ich fand es tatsächlich berührend. Wir hatten uns gewünscht, möglichst vielen Leuten wieder physisch zu begegnen, die letzten Konzerte waren ein paar Jahre her. Und tatsächlich sind so viele Leute wie noch nie gekommen, Ältere und Jüngere. Das mag aus Zitronen-Sicht vielleicht ungewöhnlich sweet klingen, aber es war unkrampfige Liebe – irgendwie.
Gaier: Nostalgie ist ja nicht unbedingt unser Ding. Wir haben deshalb auch versucht, die alten Songs neu zu spielen. «Für immer Punk» hat beispielsweise Camille O, früher bekannt als Hans Unstern, auf der Harfe begleitet. Und auch noch selbst einen Kommentar reingelegt: «Wollt ihr für immer konservativ bleiben?» Ansonsten haben wir uns bemüht, das Publikum an unserer Verwunderung über unser Frühwerk teilnehmen zu lassen.