Pop: Frankreich, seid ihr hier?
Der frankofone Rap, stark geprägt von postkolonialen Verbindungen, ist eine der interessantesten Ecken im Popmainstream. Eine kleine Übersicht am Paléo Festival in Nyon.

«Martinique, on est là?», ruft Bamby ins Publikum, das ins Zelt vor die Bühne drängt – «Martinique, seid ihr hier?» Die Sängerin geht die Frage zur Begrüssung für einige Inseln und Länder der Karibik durch; das im Hip-Hop geprägte Ritual («… in da house?») ist auch im Reggaeton und Dancehall üblich. Dann schiebt sie nach: «Et la France, on est là?» Eine grosszügige Einladung in die karibische Familie für die Kolonialmacht.
Es ist früher Freitagabend am Paléo Festival. Vom etwas oberhalb von Nyon gelegenen Festivalgelände blickt man in die französischen Alpen jenseits des Genfersees, und auch im Westen sind es keine zehn Kilometer bis zur französischen Grenze. Doch auf den Bühnen spielt diese hier sowieso kaum eine Rolle. Ein beträchtlicher Teil der Musiker:innen kommen aus Franreich; am Donnerstag und Freitag wird ausserdem besonders viel Rap gespielt – der in Frankreich heute so dominant ist, dass er den Popmainstream nahezu ausfüllt. Doch eine Einschränkung ist dieser sprachliche und stilistische Fokus nicht; im Gegenteil: Der kulturelle Horizont wird hier gerade dadurch auffallend weit.
Man kann die Begrüssung durch Bamby, 1991 geboren als Ambre Zamor in Französisch-Guayana, einer der übrig gebliebenen Kolonien Frankreichs an der Karibikküste Südamerikas, als Witz auf koloniale Prägungen verstehen. Diese führt zum Beispiel dazu, dass Bamby hier eine Spielart von Dancehall auf die Bühne bringt, die auf französischem Staatsgebiet entstanden ist: eben auf der Antilleninsel Martinique, die weniger Einwohner:innen hat als die Stadt Zürich. Shatta heisst diese Variante, und sie zeichnet sich durch gesteigertes Tempo, tiefe Bässe und schnörkellose, trocken klingende Perkussion aus (am Paléo auch zu hören in einem sehr unbekümmerten DJ-Set des karibisch-französischen Duos Boutcha Bwa).
Keine Diversity
Ein schönes Beispiel für Shatta: der Song «Chic», den Bamby Ende letzten Jahres zusammen mit Maureen aus Martinique – Übername: Queen Shatta – veröffentlichte. Bamby spielt ihn auch am Paléo. Jedenfalls nach einigen Anläufen, der DJ bricht nach ein paar Takten immer wieder ab – Dancehall ist auch eine Kunst der Anheizung. Der konzentrierte Beat mit wenigen Sounds schärft die Rhythmik; die derben Lines schlagen umso mehr ein. Sprachlich dominiert ein slanglastiger Französisch-Hybrid, mit Englisch sowie Jamaika- und Antillen-Kreolisch. Sexuelle Anspielungen überall und Punchlines wie diese: Bamby schickt die Männer in die Küche – zum «pussy cooking».
Der Dancehall der Antillen befindet sich nun eher an den äusseren Rändern dessen, was die meisten unter französischem Rap verstehen. Doch sind es gerade auch die globalen Verbindungslinien, die diesen auch in Frankreich selber bis heute massgeblich prägen. Regionen, aus denen viele der trendigsten Beats und Sounds stammen, bei denen sich so viele im heutigen Pop gern bedienen – Zentral- und Westafrika, die Karibik oder Nordafrika –, sind auch solche, in die das französische Kolonialreich reichte.
Entsprechende Migrationsgeschichten findet man auch bei den Rappern, die an diesen zwei Tagen am Paléo spielen: Da sind etwa Hamza aus Brüssel, marokkanische Wurzeln; Soprano aus Marseille, Wurzeln auf den einst von Frankreich beherrschten Komoren bei Madagaskar, dann SDM, Ninho und Niska, alle aufgewachsen in Pariser Vororten, alle mit Eltern aus dem Kongo (der grossen kongolesischen Community in Frankreich verdankt der französische Rap heute sowieso viele seiner besten Stimmen). Auf Spotify sind acht der zehn in Frankreich meistgehörten Künstler:innen Schwarze Rapper (die anderen beiden sind weisse Rapper). Und das in einem Land, in dem es für diejenigen mit Migrationsgeschichte immer noch vergleichsweise hart ist, zu öffentlicher Sichtbarkeit oder einer Machtposition zu gelangen.
Das Line-up des Paléo hat also wenig mit bemühter Diversity zu tun. Eher findet man diese in einer anderen Ecke des Geländes, dem sogenannten Village du Monde, wo Musik und Verpflegung jedes Jahr einer Weltgegend gewidmet sind. Heuer ist der Maghreb dran. Es ist hier durchaus interessante Musik zu hören, etwa der arabische Blues der Band Bab L’Bluz oder das Duo Aïta Mon Amour, das algerischen Chaabi mit dunklen elektronischen Beats interpretiert. Doch wie die Bands hier zwischen Palmenhain und neonorangen, mit Sand ausgelegten Beduinenzelten kulturell markiert werden, wird ihrem musikalischen Anspruch nicht gerecht.
«Kein Französisch»
In Frankreich, wo nach den USA als Erstes eine eigene Hip-Hop-Szene entstand, waren postkoloniale Verbindungen schon früh prägend. Der Kampf gegen Rassismus und die französische Klassengesellschaft sind dem dortigen Rap tief eingeschrieben. Nach harmloseren Anfängen wählten Gruppen wie NTM aus Paris und IAM aus Marseille, beide Ende der Achtziger gegründet, musikalisch und politisch bald eine härtere Gangart. IAM erzählten im düsteren Track «Tam-tam de l’Afrique» schon 1991 vom Sklav:innenhandel. Später wurde der Rap zur Stimme der migrantischen Jugend in den Banlieues und zum Soundtrack so mancher Revolte.
Davon erzählt eindrücklich die neuere, sechsteilige Arte-Doku «Made in France» über den Produzenten DJ Mehdi. DJ Mehdi, nordwestlich von Paris mit tunesisch-französischen Eltern aufgewachsen und 2011 mit nur 34 Jahren tragisch verstorben, bastelte als Zwölfjähriger seinen eigenen Sampler und verarbeitete seine riesige Plattensammlung bald mit faszinierendem Schaffensdrang zu Beats für diverse Rapcrews, darunter Mafia K’1 Fry und 113.
Mit seinen ungewohnten musikalischen Einwürfen wirkte DJ Mehdi in der agitierten Rapszene der Vorstädte als stiller Avantgardist; breitere Anerkennung erhielt er aber erst als Teil der privilegierten, weissen Electroszene in der Innenstadt, die in der Mehrheitsgesellschaft als Kulturgut unbestritten war. Den Rap hat Nicolas Sarkozy als Innenminister etwa als «antirepublikanische Propaganda» und «gewaltverherrlichend» bezeichnet und Verbote gefordert.
Dass der Backlash bis heute andauert, zeigte sich im Vorfeld der Eröffnungsfeier der Olympiade in Paris letztes Jahr. Als bekannt wurde, dass die malisch-französische Sängerin Aya Nakamura auftreten würde, bezeichnete die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen sie als «vulgär»; das sei doch kein Französisch, was sie singe, und der rassistische Internetmob tobte (siehe WOZ Nr. 15/24). Der Auftritt an der Feier war dann ein symbolisches Glanzstück: Nakamura schritt, ihr hybrides Französisch singend, von der Académie française, die die französische Sprache hütet, über die Pont des Arts und traf auf eine Blasmusik der Republikanischen Garde, die die Afrobeats mittrommelte.
Nakamura war auch eine der Juror:innen der beliebten Netflix-Rapcastingshow «Nouvelle École», die einen guten Einblick in die französische Rapgegenwart gibt. In Nyon sind gleich mehrere Protagonist:innen aus der Sendung vertreten: Youssef Swatt’s, Sieger der dritten Staffel, der mit Liveband und einem sprachlich dichten, aber ein bisschen in den Neunzigern hängen gebliebenen Rap auftritt, dazu die Pariser Rapper SDM und Niska, die ebenfalls in der Jury sassen.
Keine Mühe
Als SDM am Donnerstag in der Dunkelheit eine der grossen Bühnen betritt, staut sich das Publikum weit zurück. Mächtige Trapbeats bäumen sich auf, die Verse rollen in SDMs eindrücklich voluminöser Bassstimme übers kalt erleuchtete Gelände, manchmal keift eine schmierige Rockgitarre dazwischen. Und dann brechen plötzlich sonnengelbes Scheinwerferlicht und die Afrobeats ein. Kompletter Stimmungswechsel: SDM zeigt seine Singstimme, eine hymnische Leichtigkeit kehrt ein, der Gitarrist spielt flink die Offbeats mit.
Dieser Singsang, er ist eine beliebte Disziplin im frankofonen Gegenwartsrap. Man hört ihn etwa auch in «Coco», einem Hit von Niho und Niska aus dem letzten Sommer, in dem die beiden Rapper zu schmelzen scheinen, während sie die melodischen Zeilen über den federleichten Afrobeat hauchen. Ihr Auftritt am Freitag auf der Hauptbühne ist ein Triumph der Rapkunst. Die beiden können es durchaus auch härter; messerscharf schieben sie die Zeilen ineinander. Doch bei aller technischen Brillanz wirkt das alles auch so unglaublich mühelos und weich, wie es auf diese Weise vielleicht nur auf Französisch möglich ist.