Jazz: Hybride Bestäubung über Kreuz

Nr. 40 –

In London macht seit einigen Jahren eine neue Jazzszene mit aufregend eklektischer Musik von sich reden. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine Organisation, die sozial benachteiligte Musiker:innen fördert.

Foto der Band Ezra Collective
Der New London Jazz ist Ausdruck der kulturellen Vielfalt der Metropole. Sein internationales Gesicht ist seit neustem das Ezra Collective. Foto: Aliyah Otchere

Man muss schon wissen, wo das Matchstick Piehouse liegt. Rein zufällig wird man nicht daran vorbeikommen. Das Theater- und Musiklokal versteckt sich unter einem Bahnviadukt bei einer Sozialbausiedlung in einer abgeschiedenen Sackgasse in Deptford, einem Quartier im Südosten Londons. An diesem Mittwoch gegen 22 Uhr ist die Strasse menschenleer und eher trist, nur ein einsames Teenagermädchen übt auf dem anliegenden Basketballplatz, trotz strömenden Regens.

Drinnen im Piehouse hingegen: gewaltige Stimmung. Etwa hundert Leute drängen sich um die kleine Bühne, tanzend oder zumindest hüpfend, auf jeden Fall begeistert vom energiegeladenen Sound, der ihnen entgegenschlägt. Jede Woche gibt das Musiker:innenkollektiv Steam Down hier eine Jamsession. Es ist seit Jahren ein Fixpunkt in der neuen Jazzszene Londons.

Ist es überhaupt Jazz? Zwei Violonist:innen und ein Cellist sind heute auf der Bühne, zwei Sängerinnen, ein Rapper, ein Drummer sowie der Bandleader und -gründer Wayne Francis, Künstlername Ahnansé, an Saxofon und Keyboard. Mal erinnert die Musik an Afrobeat, mit schwerer Perkussion und mantraartig vorgetragenen Lyrics, mal klingt es ganz psychedelisch. Dann geht der Schlagzeuger zu einem Drum-and-Bass-Rhythmus über, begleitet von Trompete und Cello. Die langen Improvisationen von Steam Down sind ein wildes Gemisch aus Genres – und damit eigentlich recht typisch für diese Szene.

Afropunk-Jazz

Die britische Musikpresse stellte bereits vor einigen Jahren fest, dass sich in der Metropole etwas tat. 2019 schrieb das Magazin «Jazzwise» von einer neuen Generation von Musiker:innen, alle noch unter dreissig, die einen neuen Sound «zusammenbrauen». Zum ersten Mal seit den frühen neunziger Jahren mache britischer Jazz wieder von sich reden.

Seither hat sich der New London Jazz – unterbrochen von der Pandemie – weiter etabliert. Vor wenigen Wochen ist auch ein Weltpublikum auf die Szene aufmerksam geworden: Der prestigeträchtige Mercury Prize ging in diesem Jahr an die Londoner Jazzband Ezra Collective. Mit «Spuren von Reggae, Soul, Latin und Afrobeats» sei ihr Album «Where I’m Meant to Be» ein «Meilenstein nicht nur für den Jazz, sondern für zeitgenössische Musik im Allgemeinen», schrieb das Preisgericht.

Hört man in einige der Alben rein, die der Aufbruch in den vergangenen Jahren hervorgebracht hat, stösst man auf Einflüsse diverser Stile und globaler Traditionen. Der Schlagzeuger Moses Boyd beispielsweise nimmt Elemente von Grime und ghanaischem Highlife auf, die Saxofonistin Nubya Garcia karibische Rhythmen. Die Sängerin und Harfenistin Davina Adeosun-Bright alias Muva of Earth bezeichnet ihre Musik als eine Art Afropunk-Jazz. Die Flügelhornspielerin und Trompeterin Yazz Ahmed schöpft aus der Volksmusik des Persischen Golfs.

Camilla George nimmt die Musik und die Kultur Nigerias zum Ausgangspunkt. Die Saxofonistin, Mitte dreissig, ist einer der Stars der neuen Szene. Sie ist mit Jazz aufgewachsen, zunächst dank der Plattensammlung ihres Vaters. Dann, als Achtjährige, als ein Freund der Mutter zu Besuch kam und sein Tenorsax mitbrachte, habe sie als einziges Kind einen Ton aus dem Instrument pressen können – «da wusste ich, dass ich Saxofon spielen will», sagt sie. An diesem Tag Ende September macht sie sich gerade bereit für eine Tour durch Italien und Frankreich und spricht per Zoom in ihrer Wohnung im Westen Londons.

George lebt zwar seit langer Zeit in der britischen Hauptstadt, aber Nigeria, wo sie geboren wurde, nimmt in ihrem Schaffen einen wichtigen Platz ein. Ihr drittes und neustes Album, «Ibio-Ibio» (2022), entstand aus der intensiven Auseinandersetzung mit den Traditionen des Volkes der Ibibio, dem sie entstammt. «Ich denke oft über Aspekte dieser Kultur nach, zum Beispiel über die alte Religion der Ibibio, und dann fällt mir eine Melodie ein oder eine Basslinie oder ein Groove», sagt George. «Darauf baue ich dann den Song auf. Alles, was ich schreibe, hat seine Wurzeln in einer solchen Geschichte.»

Tanzen wie damals

«Es gibt in der Szene eine Offenheit gegenüber solchen Einflüssen aus dem Rest der Welt. Die Künstler:innen nehmen sich die Freiheit, Musik zu schreiben, die ihren kulturellen Hintergrund reflektiert», sagt George. Viele Musiker:innen des New London Jazz haben Vorfahr:innen in Westafrika, in der Karibik oder im arabischen Raum, die Musik ist auch Ausdruck der kulturellen Vielfalt in der Metropole.

Auch sei die «Jazzpolizei» heute kaum mehr auf Patrouille, sagt Camilla George. Will heissen: Niemand hebt den mahnenden Finger und nörgelt herum, dass hier kein «reiner» Jazz gespielt werde, wenn Einflüsse aus Hip-Hop oder Grime zu hören sind. Auch George arbeitet viel mit Künstler:innen aus anderen Genres zusammen, auf dem neusten Album etwa mit der britischen Rapperin Sanity.

Die Erweiterung des musikalischen Spektrums hat auch den Effekt, dass der Jazz viel tanzbarer geworden ist. Als Camilla George noch am Konservatorium war – sie besuchte die renommierte Musikschule Trinity Laban im Stadtteil Greenwich –, war der britische Jazz ein ganz anderer, weit europäischer geprägt, wie sie sagt. «Die Musiker:innen waren fantastisch», erzählt sie. «Aber der Tanzaspekt, der in der Geschichte des Jazz eigentlich von Beginn weg zentral war, fehlte weitgehend.» Die Stile, die sich die heutige Szene zu eigen mache, haben den Jazz wieder viel bewegungstauglicher gemacht. «Musiker:innen wie das Ezra Collective oder Nubya Garcia füllen riesige Konzerthallen, in denen das Publikum den ganzen Abend lang tanzt.»

Dass die heutige Szene entstehen konnte, hat auch materielle Gründe. Viele Musiker:innen haben ihr Handwerk bei Tomorrow’s Warriors gelernt. Die 1991 gegründete Organisation fördert insbesondere Jazzmusiker:innen aus Minderheiten und weniger privilegierten sozialen Klassen. Sie bietet Ausbildungsprogramme, Workshops und Möglichkeiten, vor Publikum aufzutreten. «Entscheidend ist, dass Tomorrow’s Warriors gratis ist», sagt Camilla George. «Das bedeutet, dass die Kurse allen offenstehen. Man findet viele dort, die nur deswegen Musik machen können, weil man ihnen kostenlos ein Instrument zur Verfügung stellt.»

Kein Jazzclubsetting

Sie selbst kennt die Organisation, seit sie mit elf Jahren zum ersten Mal Saxofonunterricht nahm und vom Bassisten Gary Crosby, einem der Mitgründer von Tomorrow’s Warriors, gefördert wurde. Nebst dem finanziellen Aspekt sei es entscheidend gewesen, dass sie in den Jahren bei den Warriors gelernt habe, ihren «eigenen Sound zu entwickeln», sagt George. Das sei einer der Schwerpunkte: den Künstler:innen die Freiheit zu geben, diverse Elemente von anderen Musiker:innen aufzunehmen, eine Art «Kreuzbestäubung». Das habe es der neuen Generation erlaubt, ihren eklektischen, hybriden Stil zu formen.

Dazu kommt, dass insbesondere im Süden Londons, in Quartieren wie Deptford, gegen Ende der 2010er Jahre viele Konzertlokale entstanden sind, die gut zum neuen Sound passen. Wie Steam-Down-Gründer Ahnansé in einem Interview vor zwei Jahren sagte: «Dort nahm man die Musik aus dem traditionellen Jazzclubsetting und machte sie lockerer.» Man sei nicht mehr gesessen, das habe alles verändert, sagte Ahnansé: Die neue Musik hatte «Raum, sich zu entfalten».

Das Matchstick Piehouse, in dem Steam Down seit 2017 regelmässig auftritt, ist ein solcher Ort. An diesem Abend geht die Jamsession auf ihren Höhepunkt zu. Höllisch heiss ist es geworden im kleinen Konzertraum, schwitzend legen sich die Musiker:innen ins Zeug. Trompete und Saxofon, frenetische Trommelschläge, dazu abgehackte Rappassagen und im Hintergrund die Violine. Ein aberwitziger Mix – aber einer, der offensichtlich berauscht. Bandleader Ahnansé hatte eine der «Hausregeln» der Sessions schon zu Beginn verkündet: dass man sich zu dieser Musik bewegen solle.