Protestwelle in Serbien: Pfeifen und Traktoren
Student:innen marschieren tagelang, Bäuer:innen blockieren Strassen, und grosse Teile der serbischen Gesellschaft solidarisieren sich: Am Wochenende des Nationalfeiertags ist das Land in Aufruhr.
Vergangenen Freitagabend in Kragujevac: Manche Student:innen sind schon am Dienstag losgelaufen, waren tagelang zu Fuss oder auf Velos unterwegs, bei Kälte und Schnee. Nun werden sie wie Held:innen empfangen. Die Wartenden holen alles aus ihren Pfeifen und Vuvuzelas. Der 21-jährige Student Vojin sagt: «Die regierungsnahen Medien erzählen den Menschen auf dem Land, wir seien aus dem Ausland bezahlte Agenten. Wenn wir durch die Dörfer laufen und sie mit uns sprechen, glauben sie diese Lügen nicht mehr.»
Seit Monaten proben Serbiens Student:innen den Aufstand. Kragujevac ist die dritte Stadt, die sie blockieren, nach Belgrad und Novi Sad, den beiden grössten Städten des Landes. Sie formulieren ihre Forderungen basisdemokratisch, in Plena. 65 der 80 Fakultäten im Land sind besetzt, die Hauptforderungen sind grundlegender Natur: Ende der Korruption, Rückkehr zu Demokratie und funktionierenden Institutionen, strafrechtliche Verfolgung derer, die für den tödlichen Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad im November 2024 und die Angriffe auf die darauffolgenden Proteste verantwortlich sind. Einen Rücktritt des Präsidenten Aleksandar Vučić fordern sie nicht. Nicht, weil man ihn nicht loswerden will – viele der Protestschilder und Parolen adressieren ihn direkt. Doch Serbien ist ein parlamentarisches System, kein präsidiales. Indem die Student:innen immer wieder darauf aufmerksam machen und sagen: «Er ist nicht zuständig», erkennen sie Vučićs Autorität gar nicht erst an.
Gold für Rodžer Kepel
Während die Schweizer Rennfahrer:innen an der Ski-WM in Saalbach historische Erfolge feierten, glänzte auch «Weltwoche»-Herausgeber Roger Köppel: Aus Anlass des serbischen Nationalfeiertags am Wochenende wurde er von Präsident Aleksandar Vučić mit der goldenen Verdienstmedaille ausgezeichnet. Warum Rodžer Kepel auf Rang 52 von 101 geehrten Persönlichkeiten figuriert, geht aus der Mitteilung des Präsidialdepartements nicht hervor. Mutmasslich dürfte Köppel die Auszeichnung erhalten haben, weil er Vučić unlängst im Zürcher Grandhotel Dolder den roten Teppich ausrollte.
Was der autoritär regierende Präsident von den Geehrten erwartet, machte er derweil auf seinem Facebook-Profil klar: «Sie tragen ab heute nicht nur persönliche Verantwortung, sondern auch Verantwortung für ganz Serbien, an jedem Ort, wo auch immer Sie sind. Dies ist nicht nur ein Dank, sondern auch eine Verpflichtung.»
«Das sind unsere Kinder»
In Kragujevac organisieren die Menschen Schlafplätze für die angereisten Demonstrierenden – manche finden Unterkunft in Privatwohnungen, andere in Fakultätsgebäuden. Freiwillige verteilen Essen und Getränke. Als sich die Student:innen in der Nacht vor Protestbeginn schlafen legen, sind die ersten Landwirte schon auf dem Weg.
Am frühen Samstagmorgen blockieren sie mit ihren Traktoren den Eingang zur Innenstadt. Der Bauer Milan Milošević aus dem 700-Seelen-Dorf Viševac berichtet, wie er dort mit anderen sechzehn Tage lang das Haus der kommunalen Verwaltung besetzt habe. Nun unterstützt er den Protest: «Das sind unsere Kinder, und es tut uns leid, dass wir nicht früher mit dieser Mafia abgerechnet haben und sie es jetzt machen müssen.» Um 9 Uhr versammeln sich die Student:innen im Zentrum. Nun geht es richtig los. Wenn es in den nächsten Stunden mal kurz leiser zu werden droht, schreit jemand «Pumpaj!» (pumpen), und es wird wieder laut. Viele Berufsgruppen und Vereine solidarisieren sich. Selbst der Mercedes-Klub Serbien ist mit schicken Karossen vor Ort, um seine Solidarität zu zeigen.
Nur zwischen 11.52 und 12.07 Uhr herrscht absolute Stille. Um 11.52 Uhr stürzte in Novi Sad das Bahnhofsvordach ein. Für jedes der Opfer wird eine Minute lang geschwiegen. Fünfzehn leere Stühle erinnern an die Verstorbenen.
Gegenkundgebung von Vučić
Ort und Datum des Protests sind bewusst gewählt: Der 15. Februar ist der Nationalfeiertag, an dem die Verabschiedung der ersten serbischen Verfassung in Kragujevac 1835 gefeiert wird. Eine passende Kulisse, wenn man 190 Jahre später die Einhaltung der Verfassung fordert. Der Protest vereint ein breites Spektrum der Gesellschaft, geeint einzig in den Forderungen der Student:innen. Neben viel progressiver Symbolik sieht man auch offen zur Schau gestellten Nationalismus. Nur EU-Flaggen sind in Kragujevac keine zu sehen. Viele sind enttäuscht von einer Politik, die Vučić als Partner behandelt, anstatt die demokratischen Kräfte zu unterstützen.
Während Zehntausende gegen das System demonstrieren, inszeniert Vučić in Sremska Mitrovica gleichentags eine Gegenkundgebung, schürt Ängste vor einer Abspaltung der serbischen Region Vojvodina, obwohl es keine entsprechenden Bestrebungen gibt. Es ist eine nationalistische Inszenierung für die von der Regierung kontrollierten Medien. Doch die Propaganda verfängt bei immer weniger Menschen. Vučić ist angeschlagen.
Die Student:innen halten sich derweil demonstrativ von allen Politiker:innen und Parteien fern. Ihr Protest lässt sich nicht mit Balken in Wahlumfragen abbilden. Sicher ist nach diesem Wochenende nur, dass hier eine neue Generation aufsteht – und mit breiter Unterstützung eine bessere Zukunft einfordert.