Proteste der Diaspora: Serbischer Frühling
Belgrad ist überall: Während in Serbien Hunderttausende einen Wandel fordern, formiert sich auch in der Schweiz eine Protestbewegung.

Der Aufstand gegen Serbiens Präsident Aleksandar Vučić findet auch in der Schweiz statt: Samstagvormittag in Zürich, ein wolkenverhangener, windiger Tag. Von allen Seiten strömen Demonstrant:innen auf den Europaplatz nahe dem Hauptbahnhof. Insgesamt sind es etwa 300 Personen, die mit Sprechchören und Trillerpfeifen einen Wandel in Serbien fordern. Kinder halten Luftballons in den Händen. Erwachsene tragen einen roten Handschuh, manche legen sich eine serbische Flagge um die Schultern oder halten Transparente mit Slogans wie «Vučić, es ist keine farbige Revolution, sondern deine Hände sind farbig; deine Hände sind rot!» Oder: «Alles wird zusammenfallen, mit der Hilfe von Laura Kövesi!»
Kövesi ist Europäische Generalstaatsanwältin und geht gegen die Korruption in Serbien vor. «Die Leute haben genug von der Korruption in Serbien», sagt der Student Miloš Ivanović. In Zürich geboren, fühlt er sich dem Land, das seine Eltern verlassen haben, sehr verbunden. «Es geht nicht um eine Person, es geht um das ganze System.»
Während an diesem Tag in Belgrad Hunderttausende gegen das Regime aufbegehren, versammeln sich Gleichgesinnte neben Zürich auch in Basel, Bern, Luzern, Genf und weltweit rund sechzig weiteren Städten zu Solidaritätsdemos. Eigentlicher Auslöser der Proteste war ein Unglück vom 1. November vergangenen Jahres, bei dem fünfzehn Menschen durch den Einsturz eines renovierten Betondachs vor dem Hauptbahnhof in Novi Sad ihr Leben verloren. Die Kritiker:innen machen die Regierung für die Katastrophe verantwortlich, sie sprechen von schlampiger Bauarbeit und Korruption (siehe WOZ Nr. 8/25). Seitdem erschüttern Massenproteste auch gegen den zunehmenden Autoritarismus der Regierung das Land – noch heftiger als jene, die vor 25 Jahren zum Sturz Slobodan Miloševićs führten.
Aktionen im Wochentakt
In der Schweiz leben rund 60 000 Serb:innen – eine heterogene Gruppe, wie die Politologin Valentina Petrović sagt, die an der Universität Zürich zu Serbien forscht. «Die serbisch-orthodoxe Kirche ist auch in der Diaspora sehr stark, meist sind deren Anhänger:innen rechtskonservativ. Dann gibt es auch die im ökonomischen Sinn Neoliberalen, die zugleich für LGBTQ+-Rechte einstehen. Eine kleine Minderheit wiederum ist liberal und links im ökonomischen Sinn.» Hinzu komme, dass sich die Migration in die Schweiz verändert habe. In den neunziger Jahren seien eher Personen aus bildungsfernen Haushalten hierhergekommen, die traditionell der Kirche näherstünden. Seit 2012, seit die Serbische Fortschrittspartei (SNS) an der Macht sei, komme vor allem die gut ausgebildete Mittelklasse, die eher wegen des Klientelismus das Land verlasse. «Diese Leute sind eher regierungskritisch.»
Gleich nach der Katastrophe in Novi Sad formierte sich in der Schweiz eine Solidaritätsbewegung, übersetzt lautet ihr Name «Die Diaspora steht hinter den Studenten». Denn, so Petrović: «Was in Serbien passiert, hat auch Einfluss auf die Serb:innen hier. Sie haben Familie dort, helfen dieser vielleicht finanziell, weil das Einkommen nicht reicht – was auch mit der dortigen Politik zu tun hat.» Einmal pro Woche treffen sich die Organisator:innen online, besprechen die nächsten Veranstaltungen, die meist im Wochentakt stattfinden.
In Luzern organisieren Ketrin Murihiah und Nikola Stojić die Proteste. Beide kamen in Novi Sad zur Welt, leben aber seit Jahrzehnten in der Schweiz. Sie haben Angst um ihre Freund:innen und Familien. «Seit einigen Jahren wird Serbien wie eine Firma geführt, und eine Firma hat andere Regeln als ein Staat. Es ist eine einzige Partei, die über alles herrscht», kritisiert die Sprachlehrerin Murihiah. Es sei an der Zeit, die Korruption zu beenden, sagt Stojić: «Wir möchten, dass unsere Familien und Freunde in einer funktionierenden Gesellschaft leben können.» Der Maschinenbauingenieur bezeichnet Serbien als «Stabilokratie»: «Die Regierungspartei hat alle Institutionen und die meisten Medien unter Kontrolle, und diese senden die Botschaft in die Welt, dass alles in Ordnung sei. Dem ist aber nicht so, im Land kocht es.»
In Zürich legen die Demonstrant:innen an diesem Samstag weisse Rosen und rote Kartonherzen mit den Namen der Toten von Novi Sad auf den Boden. Ab 11.52 Uhr – die Uhrzeit des Unglücks – schweigen alle für fünfzehn Minuten, um der Opfer zu gedenken. Weihrauch wabert durch die Luft. Anschliessend rufen sie in Sprechchören «pumpaj», was übersetzt «pumpen» bedeutet. Sie meinen damit das Erzeugen von Druck, der das Regime zum Platzen bringen soll. «Es kann nicht sein, dass fünfzehn Menschen sterben und der Staat das zu vertuschen versucht», kritisiert eine junge Frau, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. «Ich sehe mich verpflichtet. Ich bin zwar Schweizer Bürgerin, aber meine Wurzeln sind in Serbien.» Nikola Nikolić formuliert es so: «Mein Körper ist in Zürich, meine Seele in Belgrad.» Er lebt seit 35 Jahren in der Schweiz. «Serbien braucht eine jüngere, frischere Regierung, die befreit ist von der Vergangenheit.»
Gegen den Turbokapitalismus
Von Vučićs korruptem System sind sämtliche Institutionen betroffen – Justiz, Medien, zunehmend auch die Schulen und Universitäten. Die Regierung verfolgt einen Turbokapitalismus, der die Kluft zwischen Arm und Reich vergrössert hat und diejenigen, die nicht ihrer Partei anhängen, gnadenlos zurücklässt. «Alle, die etwas zu sagen haben, gehören zur Familie der Regierungstreuen», sagt Stojić. «Nur Parteifreunde bekommen gute Jobs. Wer den Mund aufmacht, wird unterdrückt.»
Laut Valentina Petrović liegt der Ursprung der Proteste weit zurück: In den Jahren 2015/16 protestierten in der Hauptstadt Tausende gegen die Abrisswelle für das Immobilienprojekt Belgrade Waterfront. Um das gigantische, mit Geld aus den Vereinigten Arabischen Emiraten finanzierte Vorhaben der Regierung zu realisieren, wurden Hunderte historische Gebäude abgerissen. Seither kommt es regelmässig zu wochen- oder monatelangen Protesten, auch wegen staatlicher Gewalt gegen Oppositionspolitiker:innen. Die derzeitigen Demonstrationen jedoch haben eine neue Dimension erreicht: Entstanden ist eine ausserparlamentarische und gut organisierte Opposition, die nur schwer zu kontrollieren ist.
Spenden und internationaler Druck
Die von Student:innen getragenen Proteste wollen die Gräben zwischen Linken und Konservativen, Liberalen und Strenggläubigen, Jungen und Alten überwinden, die die serbische Gesellschaft spalten. So verzichten sie bewusst auf Auftritte von Politiker:innen und lassen in ihren Forderungen auch den Namen des Regierungschefs weg. «Die Demonstranten fordern nicht den Rücktritt der Regierung und des Präsidenten; sie adressieren ihre Forderungen an die Institutionen», erklärt Petrović. Neu ist auch der Kontakt der Student:innen mit der Landbevölkerung. Die Demonstrant:innen ziehen mit dem Velo oder zu Fuss durch die Dörfer. «Die Student:innen», so Petrović, «werden als Kinder der Nation gesehen. Senior:innen, die nur eine Rente von hundert Euro pro Monat bekommen, warten auf der Strasse und schenken ihnen Süssigkeiten.»
Zu den Organisator:innen der Proteste in der Schweiz gehört auch Anamarija Nikoletić. In Belgrad geboren, studiert sie seit drei Jahren in Basel Chemie. Sie ist sich nicht sicher, ob sie nach dem Studium zurück in ihre Heimat will. Sie kennt Chemikerinnen, die in Serbien als Kosmetikerinnen arbeiten, weil es keine fachspezifischen Stellen gibt oder die Löhne zu tief sind. «Wenn man einen guten Job will, muss man Parteimitglied sein oder für eine Vermittlung bezahlen», sagt sie. Kaum waren in Serbien im November die ersten Proteste ausgebrochen, fuhr sie hin, um daran teilzunehmen. Gleichzeitig organisiert sie in Basel kleinere wöchentliche Demos.
Auf dem Europaplatz in Zürich schweben Luftballons in die Höhe, Kinder spielen zwischen den Demonstrant:innen, doch die Stimmung bleibt ernst. Zum Schluss werden Aufkleber mit einem QR-Code verteilt, um Gelder für die Zivilgesellschaft zu sammeln. «Die Zivilgesellschaft in Serbien braucht Spenden und internationale Solidarität. Ebenfalls hilfreich wäre internationaler politischer Druck», sagt Nikoletić. «Wenn jetzt nicht alle Institutionen anfangen, gemäss ihren Aufgaben, Zuständigkeiten und Kompetenzen zu handeln, könnte das Volk lethargisch werden», fürchtet Ketrin Murihiah. Und Nikola Stojić fügt hinzu: «Die serbische Regierung braucht ein klares Signal von Brüssel, dass es so nicht weitergehen kann. Die Nutzung der Gelder, die in das Land reingepumpt werden, sollte kontrolliert werden. Sonst verschwindet es in korrupten Kanälen.»
SVP und Serbien: Rodžer Kepel ist nicht erfreut
Roger Köppel, Frühaufsteher, vollendet einen wichtigen Teil seines Tagwerks jeweils um 6.30 Uhr: Dann verschickt er sein «Weltwoche Daily», eine kommentierende Zusammenfassung der jüngsten Nachrichtenlage im Videoformat. Vergangenen Montag kam er kurz und erst gegen Ende der Sendung auch auf die Protestbewegung in Serbien zu sprechen. Sauertöpfisch attestierte er «den Medien» «bemerkenswerte, skurrile und auch etwas beängstigende Sympathien für diese Protestler». Aleksandar Vučić sei ein gewählter Präsident, deshalb sei das keine Demokratie, was da auf den Strassen stattfinde, sondern Demagogie.
Was soll er auch sonst sagen, der am serbischen Nationalfeiertag von Vučić mit einer Verdienstmedaille geehrte Rodžer Kepel.
Köppel und seiner «Weltwoche» sind die Beziehung zum autoritär regierenden Präsidenten (etwa mit einer Einladung nach Zürich, siehe WOZ Nr. 3/25) und die Pflege serbisch-nationalistischer Mythen seit längerem ein Anliegen. So stilisierte Redaktor und Medizinhistoriker Christoph Mörgeli «das Heldenvolk» in einem 2022 und 2024 erschienenen Text mit schwülstigen Kulturessenzialismen zur widerständigen (und damit der Schweiz verwandten) Bergnation hoch und deutete Serbiens Rolle im Bosnienkrieg um.
Mit dieser Apologetik ist er in seinen Reihen in bester Gesellschaft; in ihrem Antiislamismus, der Ablehnung der Unabhängigkeit des Kosovo und einem kremlfreundlichen Anti-EU-Kurs fanden sich SVP-Politiker:innen und grossserbische Nationalist:innen immer mal wieder. Erinnert sei etwa an den Walliser SVP-Politiker und Reichsflaggenästhet Oskar Freysinger, der den Genozid an über 8000 Muslim:innen in Srebrenica, begangen unter Führung des serbischen Generals Ratko Mladić, für «aufgebauscht» hielt und 2007 in einem Text mit «Serbien hatte die Kühnheit zum Widerstand» eine Rechtfertigung für Slobodan Miloševićs Kriegsverbrechen fand.
Freysinger erhielt jedoch nie eine Verdienstmedaille. Nur eine Mitgliedschaft in einem serbischen Schriftstellerverband.