Pride in Budapest: Und es gibt sie doch

Nr. 27 –

Aufbruchsstimmung im Epizentrum der rechtsautoritären Wende: Hunderttausende finden am verbotenen Pride-Umzug in der ungarischen Hauptstadt die Hoffnung wieder.

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Teilnehmer:innen des Pride-Umzug auf der Elisabethbrücke in Budapest
Aussergewöhnlich bunt: Auch revolutionäre Linke und Liberale bekunden in Budapest gemeinsam Solidarität.

Abgekämpft sieht Máté Hegedűs aus, rauchend in einem weissen Zelt am Rand des Deák Ferenc tér, des Ausgangspunkts der diesjährigen Pride. Immer mehr Menschen strömen auf den Platz, obwohl man hier schon lange dicht gedrängt steht. «Ich bin müde, überwältigt, und ich bin stolz», sagt Hegedűs, Sprecher:in der Pride. «Wir hatten so viele kurze Nächte, lange Sitzungen, mussten so viele schwierige Entscheidungen treffen, und jetzt sieht es ganz danach aus, als wäre das die grösste Budapest Pride der Geschichte.»

Wie viele Leute tatsächlich gekommen sind, weiss Hegedűs zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Aber rund eineinhalb Stunden nach dem offiziellen Demonstrationsbeginn stehen auf dem Ferenc-Deák-Platz die Menschen immer noch zu Tausenden, als die Nachricht die Runde macht, die Spitze des Umzugs sei schon fast am Ziel angekommen. Man hatte im Vorfeld – zuversichtlich trotz Verbot – 50 000 Teilnehmer:innen erwartet. Das wären schon sehr viele gewesen. Nun sind es laut Veranstalter:innen 200 000.

Ein Gefühl der Selbstermächtigung

Diese Pride ist keine Party mit queerer Ästhetik und lustiger Ausgelassenheit, sondern ein Demonstrationsumzug. Tausende dürften zum ersten Mal dabei sein, jung, alt, queer oder nicht. Die sechzigjährige Frau zum Beispiel, die sich ­einen farbigen Blumenkranz auf die Haare gelegt hat und gemeinsam mit einer Freundin demonstriert. «Dieses Jahr ist alles anders», sagt sie. «Wir sind hier, um für unsere Freiheit zu kämpfen.» Dann macht sie eine Pause und schiebt nach: «Genug!»

Viel war im Vorfeld spekuliert und diskutiert worden: Stimmt es, dass die Regierung Kameras mit Gesichtserkennungssoftware entlang der Route installiert hat? Droht dem Bürgermeister von Budapest eine Haftstrafe? Werden rechtsextreme Gegendemonstrant:innen den Umzug stören?

Am Samstagnachmittag ist das auf einmal weit weg. Die Unsicherheit hat keinen Platz hier. Sie wird verdrängt von Euphorie, Wut und einem Gefühl der Selbstermächtigung, das sich unter Antifa-, Regenbogen- und EU-Flaggen in flirrender Hitze zum Takt scheppernder Musik in dieser gigantischen Masse ausbreitet.

Es ist die 30. Budapest Pride. Erst nach der Wende 1989 entstanden in Ungarn die ersten Schwulen- und Lesbenorganisationen, Hilfsangebote und Anti-Aids-Kampagnen. Erst die Wende ermöglichte freie Versammlungen wie die Pride – und deren Verbot weist auch deshalb weit über diesen einen Junisamstag hinaus.

«Lasst uns zusammenbleiben!»

Einige Stunden zuvor öffnet eine junge Anarchist:in mit Rufnamen Racoon die Tür zum Gemeinschaftszentrum Aurora nahe dem internationalen Bahnhof Keleti. Das anarchistische Kollektiv Varju trifft sich hier unter anderem mit Aktivist:innen, die aus Tschechien angereist sind, in einem beschaulichen Innenhof. An den Wänden Tags, Plakate und eine grosse Pride-Flagge. Viele Tattoos, viel gefärbtes Haar. «Am besten ist es wohl, wenn wir auf dem Weg zum Deák Ferenc tér zusammenbleiben», sagt Racoon. «Das schützt uns vor den Nazis.» Jemand wedelt vielsagend mit einer Tränengasspraydose.

Es bilden sich Bezugsgruppen. Schon der Marsch zum Besammlungsort ist eine Art kleine Demo; in Zweierreihe laufen die Aktivist:innen los. Wie legal dieser Umzug überhaupt ist, ist immer noch unklar. Die Polizei hat ihn verboten, die Regierung hat Strafen angekündigt ­– Bürgermeister Gergely Karácsony hingegen hat ihn zur kommunalen Veranstaltung erklärt und versprochen, dass niemand gebüsst werde.

«Diese Pride ist anders», schrieben die Organisator:innen des antikapitalistischen Pink Blokk im Vorfeld. «Wir haben immer kritisiert, dass Firmen die Pride vereinnahmen. Ob sie dieses Jahr auch wieder da sind, wissen wir nicht, aber wir wissen, dass es wichtiger denn je ist, auf die Strasse zu gehen.»

Teilnehmer:innen des Pride-Umzug auf der Strasse und am Strassenrand

Der Block läuft unter dem Motto «Niemand ist frei, bis wir es alle sind». Die reichlich abgenutzte Parole ist an der Demonstration immer wieder zu sehen, und im Kontext des antidemokratischen Umbaus Ungarns durch Viktor Orbán erhält sie eine bemerkenswerte Dringlichkeit: Kaum eine Minderheit, kaum eine Bevölkerungsgruppe, die der Ministerpräsident nicht schon angegriffen hat. Das Pride-Verbot ist bloss der letzte Übergriff.

Erst vor wenigen Wochen lancierte die Regierung seiner Fidesz-Partei etwa ein neues Gesetz gegen NGOs und unabhängige Medien. Sofern diese finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten, sollen sie dereinst auf eine schwarze Liste gesetzt und dem Geldwäschereigesetz unterstellt werden können. Es ist ein unverhohlenes Zensurgesetz.

Seit fünfzehn Jahren ist Orbán, der Vorkämpfer der internationalen autoritären Rechten, nun schon an der Macht. Aber an diesem Samstag ist er ein ganz, ganz kleiner Mann, und die Handvoll Gegendemonstrant:innen, die die Freiheitsbrücke blockieren, sind unbedeutend. Die Route wird spontan geändert und führt stattdessen einfach über die benachbarte Elisabethbrücke am Fuss der riesigen Statue von Gellért, dem Schutzpatron Budapests. Die Bilder gehen um die Welt. Unter dem Gellért-Denkmal hängt ein Transparent mit der Aufschrift: «Free Maja – Orbán Fuck Off» (vgl. «Ich ertrage diese Situation nicht mehr»).

An dieser Pride wird Ungarn vom Vorbild der Rechten zum Vorbild der Opposition. Firmenlogos sind am Umzug kaum zu sehen, stattdessen Liberale, die sich nicht an «Antifascista»-Parolen zu stören scheinen, NGOs wie Amnesty International, Dutzende EU-Parlamentarier:innen, aus der Schweiz ist der Grünen-Nationalrat Michael Töngi angereist, und mittendrin die revolutionäre Linke, die kein Bedürfnis zu haben scheint, sich von den anderen abzugrenzen.

Von wegen Familie

«Wir sind keine Gesandten des Westens, keine Propagandist:innen», sagt Máté Hegedűs am Vortag, noch um einiges entspannter und selbstbewusst. Hegedűs erinnert an den Jahrestag der Stonewall-Unruhen. Die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Queers in New York 1969 standen am Anfang der internationalen Pride-Bewegung und sind hier in Budapest gerade wieder so deutlich als deren Fluchtpunkt erkennbar, wie es andernorts nach Jahrzehnten der Kommerzialisierung schon lange nicht mehr vorstellbar ist. «Die Budapest Pride ist feministisch, antirassistisch – und dieses Jahr gehen wir auch auf die Strasse, um für das Recht zu kämpfen, das überhaupt zu dürfen», sagt Hegedűs.

Anlass ist eine denkwürdige Medienkonferenz, die Hegedűs selbstbewusst bestreitet. Auf dem Podium ausserdem: Hadja Lahbib, die EU-Kommissarin für Gleichstellung; Nicolae Ştefănuţă, Vizepräsident des EU-Parlaments; sowie Bürgermeister Karácsony. Von der «New York Times» über «Arte» bis zu «La Repubblica» sind alle da. Die Konferenz wird live übertragen, weil auch der grösste Saal im Ratshaus für all die angereisten Journalist:innen nicht gross genug ist (für die WOZ gibt es aus unerfindlichen Gründen Platz).

Denkwürdig ist sie auch, weil sich hier ein Kommunalpolitiker und EU-Politiker:innen offen gegen die Politik der Landesregierung stellen. «Als Rumäne», sagt der EU-Abgeordnete Ştefănuţă in Anspielung auf die Wende, diesen immer wieder aufflackernden historischen Bezugsrahmen, «weiss ich genau, was es bedeutet, wenn eine solche Veranstaltung in Osteuropa ihr dreissigjähriges Bestehen feiert.»

Teilnehmer:in des Pride-Umzug mit Regenbogen-Socken

Die EU-Kommission hat bisher trotzdem davon abgesehen, das Gesetz, auf dessen Grundlage die Pride nun verboten wurde, vor dem Gerichtshof der EU anzufechten. Hadja Lahbib verweist darauf, dass andere Rechtsstreitigkeiten noch offen seien. «Man muss strategisch vorgehen», sagt sie.

Im nächsten April wird in Ungarn gewählt. Viktor Orbáns Fidesz-Partei liegt in den Umfragen erstmals seit Jahren hinter der Opposition zurück. Deren Spitzenkandidat Péter Magyar war zwar einst selbst Mitglied von Fidesz, aber es gelingt ihm derzeit, eine Aufbruchsstimmung zu entfachen. «Gut finde ich ihn nicht», sagt eine Demonstrantin. «Aber ich wähle ihn, weil er gute Chancen hat, Orbán zu schlagen.»

Zur Pride hat sich Magyar nur indirekt geäussert. Die Wahlen muss er nicht in der Hauptstadt gewinnen, sondern auf dem Land, und was er wirklich denkt, weiss kaum jemand. Die Haltung der Bevölkerung wird aber immer wieder statistisch erfasst. Seit dem Amtsantritt Orbáns hat die Toleranz gegenüber Queers demnach kontinuierlich zugenommen – rund siebzig Prozent befürworteten 2023 die rechtliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Paare.