Literatur: Kein Fussball mehr in Charkiw

Es sind Geschichten aus einem Land, dem die Zukunft abhandengekommen ist. Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan führt den Leser in seinen neuen Erzählungen mitten in die Kriegsrealität seines Heimatlands.
Die beiden Protagonisten der ersten Kurzgeschichte arbeiten als Helfer bei Evakuierungen und Leichentransporten. Als sie eine tote alte Frau abholen, finden sie in der Wohnung das verblichene Foto eines armen Mädchens – möglicherweise die Verstorbene als Kind –, und die Erzählerstimme kommentiert: «Sie stand da und schaute aus der Vergangenheit in die Zukunft. In der Zukunft lag ein langes Leben, gleichmässig gefüllt mit Gut und Böse. […] In der Zukunft war der Tod.»
Der Ton der zwölf Storys ist damit gesetzt. «Keiner wird um etwas bitten» ist Zhadans erster Prosaband, der nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf Deutsch erscheint. Der Fünfzigjährige dient derzeit selbst in der Armee: Er ist für Kommunikation zuständig und hat ein Frontradio aufgebaut, muss aber (noch) nicht kämpfen. Melancholisch, momenthaft, mosaikartig erzählt er vom Dasein im Krieg, das Geschehen spielt meist im Alltag der Menschen. Der Autor begleitet seine Protagonist:innen zu Beerdigungen und Ehrungen, er erzählt vom Rendezvous eines Soldaten mit einer Soldatin, das nicht richtig funktionieren will, schreibt über einen Lehrer, der an einer zerstörten Schule einsam Wache schiebt.
Zhadan gelingt es, Bilder im Kopf entstehen zu lassen. In der vielleicht berührendsten Erzählung ist es, als wäre man dabei, wenn Bohdan und sein Sohn Tocha, beides Fussballliebhaber, durch das verwaiste Charkiw streifen. Sie sind auf der Suche nach einem Fussballplatz, auf dem gekickt wird. Sie finden keinen. Auch Tochas Freunde zum Spielen haben die Stadt längst verlassen. Am Ende schauen Vater und Sohn auf dem Laptop zusammen den WM-Klassiker aus dem Jahr 1986, als Maradona sein Tor gegen England mit der Hand erzielte. Die Suche nach Glücksmomenten, nach Lebensfreude, nach Kicks, sie führt die Protagonist:innen hier meist in die Vergangenheit.