Serhij Zhadan: Der James Dean des Donbass
Serhij Zhadan ist Dichter, Übersetzer, Aktivist, Musiker – und der Star der jungen ukrainischen Literatur. Vor wenigen Tagen ist sein neues Werk «Internat» auf Deutsch erschienen, ein Roman über den Krieg in der Ostukraine.
Serhij Zhadan ist kein Rockstar. Während seine Bandmitglieder an diesem heissen Septembertag rotweinselig beisammensitzen, Lieder singen und Witze reissen, lehnt Zhadan an der Hauswand vor der Tür und spult konzentriert ein Interview nach dem anderen ab. Er reflektiert über Heimat, Identität und Sprache. Über Helden und Heilige. Er denkt nach, wägt ab und holt weit aus, um Dinge zu erklären. Geduldig. Manche Dinge wohl zum hundertsten Mal.
Punk, Politik und Poesie
Serhij Zhadan ist doch ein Rockstar. Als er wenige Stunden später mit den Musikern auf die Bühne tritt, ist der Kulturpalast in Czernowitz prall gefüllt. Die Gäste verstopfen die Gänge, es gibt kein Durchkommen mehr. Zhadan bietet den Stehenden an, sich doch auch auf den Holzboden der Bühne zu setzen. Ein paar Mädchen mit gesenktem Blick und geröteten Wangen tasten sich auf die Bühne. Als das Konzert beginnt, neigen sie den Kopf verträumt zur Seite.
Wo kommen hier, in der 240 000 EinwohnerInnen zählenden Stadt im äussersten Südwesten der Ukraine, nur plötzlich all diese jungen Leute her?
Es ist das internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz, das an die grosse Literaturtradition der Provinzstadt anknüpfen soll. Der Dichter Paul Celan wie die Lyrikerin Rose Ausländer wurden hier vor rund hundert Jahren geboren. Doch heute ist Zhadan der Star. Er ist es, der den Kultursaal zum Bersten bringt und am darauffolgenden Abend die grosse Freiluftbühne im Stadtpark füllt. Ihm hängen alle gebannt an den Lippen, bei ihm stehen die CzernowitzerInnen später für eine Widmung Schlange.
Der 43-jährige Zhadan ist einer der populärsten SchriftstellerInnen der Ukraine. So richtig einordnen lässt er sich nicht. Er ist charismatisch und wirkt doch schüchtern; gibt sich rebellisch, aber dezent. Er ist Frontmann der Ska-Band Zhadan i Sobaky (Zhadan und die Hunde), mit der er immer wieder durch das Land tourt, aber keine Rampensau. Serhij Zhadan ist Punk und Lyrik, Politik und Poesie. Ein eigentümlicher Mix, der viele in seinen Bann gezogen hat. «Er ist ein Schriftsteller wie ein Rockstar, wie Lord Byron im frühen 19. Jahrhundert», schwärmt Vitaly Chernetsky, Slawistikprofessor an der Universität Kansas. Als «eine Art James Dean» des Donbass beschreibt ihn die Publizistin Marci Shore. Und der US-Historiker Timothy Snyder urteilt: «Niemand vereint den coolen Typen und den heiligen Narren so gut wie Zhadan. Er rappt Hymnen.»
Serhij Zhadan stammt aus dem Luhansker Oblast in der Ostukraine. Jener Region, die seit 2014 zu einem Teil von prorussischen Separatisten besetzt ist, die selbsterklärte «Luhansker Volksrepublik». Heute lebt er in Charkiw, der zweitgrössten Stadt der Ukraine, zwanzig Kilometer von der russischen Grenze entfernt. «Schlimm ist es zu sehen, wie Geschichte entsteht», schreibt er in seinem Buch «Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg» (2016). Einem Krieg, über den er jetzt einen Roman geschrieben hat, «Internat», der vor wenigen Tagen auf Deutsch erschienen ist. Die Übersetzung von Sabine Stöhr und Juri Durkot wurde eben an der Leipziger Buchmesse preisgekrönt.
Wenn der Frontverlauf wechselt
Alles begann damit, dass ihm 2014 ein Unbekannter seine Tagebuchaufzeichnungen aus Luhansk schickte. Dort, wo sich im Frühling der Konflikt zu einem Krieg zusammenbraute. Die Besetzungen der Amtsgebäude, die ersten Zusammenstösse, die russischen Soldaten, die Bomben. Dieses «Tagebuch aus dem Herzen des Krieges» wurde die Grundlage für Zhadans Roman. Das Protokoll eines Menschen, der zufällig zwischen die Fronten geraten ist.
Wie der Romanheld Pascha. Pascha ist 35 Jahre alt. Ein Lehrer, der an der Schule Ukrainisch unterrichtet, doch als Privatmann nur Russisch spricht. Friedfertig, aber apolitisch. Als der Krieg ausbricht, hält er sich bedeckt. «Was geht mich das an?», fragt er sich. Sich bloss auf nichts festlegen, ganz gleich, welche Landesfahne gerade auf den Amtsgebäuden weht. Ein Opportunist. Doch als die Frontverläufe wechseln, liegt das Internat, in dem sein Neffe lebt, plötzlich auf der anderen Seite der Front. Pascha macht sich auf, um ihn zu holen – und eine Odyssee durch die Kriegswirren beginnt.
Zhadan ist ganz anders als sein Romanheld. Der promovierte Philologe, der Paul Celan und Charles Bukowski ins Ukrainische übersetzt hat, ist ein Aktivist der ersten Stunde. Orange Revolution 2004, die proeuropäische Bewegung am Maidan zehn Jahre später. Als die SeparatistInnen im Frühling 2014 auch die Amtsgebäude in Charkiw besetzen und schon eine «Charkiwer Volksrepublik» ausrufen, legt er sich persönlich mit ihnen an und wird zusammengeschlagen. Der Dichter, der blutüberströmt von Polizisten ins Krankenhaus gebracht wird – ein Bild, das durch die Medien ging. Vor einem Jahr wurde er in Belarus (Weissrussland) kurzzeitig festgenommen, weil ihn Russland, mit dem Belarus einen Unionsstaat bildet, als «Terroristen» eingestuft hat.
In Särgen zurückgekehrt
Die Figuren in Zhadans literarischem Universum unterscheiden sich grundsätzlich von ihrem Autor. Es sind Durchschnittsmenschen, die in seinen Texten zu Wort kommen: unscheinbare Normalos und Underdogs. Mit dem Roman «Internat» wollte er aber auch selbst verstehen, warum im Donbass so viele tatenlos zusahen, wie sich plötzlich ein feindliches Lager bildete, Schützengräben ausgehoben wurden und Bomben fielen. Alles Duckmäuser und VerräterInnen, wie in Kiew bald Vorwürfe laut wurden? Oder einfach nur eine Strategie, um in der undurchsichtigen Lage der ersten Kriegstage zu überleben?
Zhadan erzählt in «Internat» Geschichten von der bizarren Normalität des Kriegs. Erst im Banalen wird die Gewalt sichtbar. Wie die Autos, die nachts ohne Scheinwerfer fahren, um nicht ins Visier von Scharfschützen zu fallen. Oder die Sonnenblumenfelder, die nicht abgeerntet wurden, weil sie im Kampfgebiet liegen. Die Zimmerpflanzen, die erfroren sind. Russgeschwärzter Schnee und herrenlose Hunde. Bei Zhadan gibt es keine HeldInnen, sondern nur das fiebrige Elend der Soldaten und die banale Gewalt. Und die Menschen, die versuchen, sich in diesem Inferno zurechtzufinden. «Wo nichts ist als Schmutz und Tod.»
Wie aus einem anderen Leben, aus einem anderen Land klingen die Erzählungen hier in Czernowitz, der ehemaligen Kulturmetropole in der Bukowina, mehr als tausend Kilometer von der Front entfernt, unter den wogenden Baumkronen und den prächtigen Jugendstilbauten, die noch unter den Habsburgern errichtet wurden. Aber auch aus Czernowitz sind Soldaten an die Front gezogen – und in Särgen zurückgekehrt.
Verständnis zeigen
Die Ukraine müsse mehr Verständnis für die Menschen im Donbass aufbringen, sagt Serhij Zhadan. Freilich nicht für Moskau, das dort bis heute einen verdeckten Krieg gegen die Ukraine führt, aber zumindest für jene UkrainerInnen, die nicht die Waffe gegen Kiew erhoben haben – und das seien ja immerhin die meisten der rund sechs Millionen Menschen im Donbass. Jene eingeschlossen, die hinter der Frontlinie wohnen, weil sie dort schlichtweg eine Wohnung oder eine Arbeit haben. «Wenn du im Separatistengebiet lebst, wirst du gleich als Kollaborateur abgestempelt», sagt Zhadan.
Es ist nicht einfach, Krieg zu führen und zugleich zu allen fair zu sein. Das weiss auch Zhadan. «Man muss diesen Helden nicht mögen», sagt der Autor auf der Bühne über seine Romanfigur. «Aber man sollte zumindest versuchen, ihn zu verstehen.»
Serhij Zhadan: Internat. Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr und Juri Durkot. Suhrkamp Verlag. Berlin 2018. 300 Seiten. 34 Franken