Klimakonferenz: Schluss mit scheinheilig!
Was für eine traurige Bilanz: Auf 1,5 Grad wollte die Welt die Erderwärmung an der Klimakonferenz in Paris beschränken – zehn Jahre später ist diese Schwelle bereits erreicht. Noch nie hat die Menschheit so viele Treibhausgase ausgestossen wie 2024. Das Klimasystem destabilisiert sich zunehmend, mehrere Kipppunkte sind nah – werden sie überschritten, droht der Welt eine sich verstärkende Kaskade an negativen Entwicklungen, die Teile des Planeten unbewohnbar machen dürften.
Wäre die Bilanz eine wirtschaftliche, wären längst griffige Massnahmen in Kraft, um einen Crash zu verhindern. Stattdessen triumphieren jene, die den drohenden Kollaps befeuern: Mit jeder Klimakonferenz wächst der Einfluss der Erdöllobby. In ihrem Gefolge verbreitet sich wachsende Scheinheiligkeit. In der Wissenschaft kennt man sie auch als «False Balance»: Über 99 Prozent aller Forschenden sind sich laut Studien einig, dass die Klimaerhitzung menschengemacht ist – aber noch immer erhält das eine Prozent der Klimaskeptiker und -leugnerinnen viel zu viel Gewicht.
Die Klimakonferenz COP30 in Belém spiegelt diese Scheinheiligkeit schon in der Ankündigung von Präsident Lula da Silva, einen Investmentfonds zum Schutz der Tropenwälder und der dort lebenden Indigenen anzulegen und zugleich Ölbohrungen in der Amazonasmündung zuzulassen. Auch der designierte Konferenzleiter André Aranha Corrêo do Lago liess verlauten, im Fokus stünden die Anpassungen an den Klimawandel. So wird marginalisiert, was eigentlich ins Zentrum gehört: CO₂-Emissionen schnellstmöglich zu verringern.
Indes erhalten technologische Ansätze zur Anpassung an die Folgen des Klimadesasters immer mehr Gewicht. Die Verpressung von CO₂ im Boden etwa, eifrig gefördert von der Erdölindustrie – und von Bundesrat (und Ex-Erdöllobbyist) Albert Rösti, der jüngst ein Abkommen mit Norwegen unterschrieben hat, um dort CO₂ aus der Schweiz im Untergrund zu speichern.
Scheinheilig ist auch der Emissionshandel mit CO₂-Zertifikaten, dank derer sich die Schweiz ihre Klimabilanz mit Kompensationen im Ausland schönrechnen kann. Ein Ablasshandel, bei dem selbst die Kompensationen oft nur vermeintliche sind, denn kaum irgendwo werden dank der Zertifikate tatsächlich Emissionen reduziert, wie Recherchen von NGOs immer wieder nachweisen.
Und doch will nun auch die EU ihre Emissionen verstärkt mittels Klimazertifikaten im Ausland «senken». Und bleibt zugleich fixiert auf «grüne Technologien» als Wachstumssektor. Auch das ist Teil der False Balance. Oder die Rede von der Energiewende, die sich im Kern um Energiewachstum dreht respektive um die Frage, wie der Energiehunger neuer KI-getriebener Technologien gestillt werden kann. Ohne diesen Energiehunger je zu hinterfragen. Wirtschaftskraft geht immer vor.
Und wehe jenen, die dennoch auf die Strasse gehen, sich auf die Strasse kleben, die Abkehr vom Wachstumsfetisch fordern: Nirgendwo zeigt sich die Scheinheiligkeit klarer als im Umgang mit Klimaaktivist:innen. Dass Entwicklungsländer jahrelang vergeblich auf Anpassungsmassnahmen zum Schutz vor den Folgen der Erhitzung drängten – es sei, so die NZZ vor wenigen Tagen, nicht etwa die Schuld von Erdöllobby oder reichen Industrienationen, nein, «Aktivisten und grün gesinnte Politiker haben das Thema jahrelang heruntergespielt».
Ein klassischer Fall von False Balance. Wie auch die Zwischenrufe in Kommentarspalten und Social-Media-Kanälen, die Klimaaktivist:innen diskreditieren, sobald diese sich für die Bevölkerung in Gaza statt für Eisbären engagieren oder im Flughafen statt am Bahnhof gesichtet werden. Als wöge ein einziger Flug den jahrelangen Einsatz zur Rettung des Planeten auf.
Oder befreite einen umgekehrt von der Verantwortung für die eigene Vielfliegerei. Denn hier zählt das Argument der False Balance nicht: Der CO₂-Ausstoss wird in jedem Land pro Kopf gemessen, und dieser ist in der reichen Schweiz überproportional hoch – und unser aller Kopf ist mitgemeint.