Weltklimakonferenz in Brasilien: Die Kontrolle zurückgewinnen

Nr. 45 –

Amazonien werde «zur Welt sprechen», kündigte Brasiliens Präsident Lula da Silva an. Vor Ort prallen derweil verschiedene Vorstellungen von Fortschritt aufeinander. Zu Besuch bei einem Sojalandwirt und einer Kaffeebäuerin.

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Kaffeebäuerin Celeste Suruí
«Wenn der Wald gesund ist, geht es auch dem Kaffee gut»: Kaffeebäuerin Celeste Suruí von der indigenen Gemeinschaft der Paiter-Suruí.

Vilmar de Castro versteht die Welt nicht mehr. In der Mittagshitze betritt der Landwirt die Halle mit seinem Maschinenpark: Mehrere Traktoren, Sämaschinen und ein GPS-gesteuertes Sprühfahrzeug stehen darin. De Castro streicht über die Verkleidung seines wertvollsten Stücks: eines knallgelben Mähdreschers der Marke New Holland, 245 PS.

«Ich arbeite von frühmorgens bis zum Sonnenuntergang», sagt de Castro. «Ich produziere, zahle Steuern, bringe das Land voran und ernähre Menschen. Warum soll ich nun ein Problem sein?»

Der 52-jährige de Castro ist Mais- und Sojabauer in der Nähe des Städtchens Belterra im brasilianischen Bundesstaat Pará. Mit 220 Hektaren Land zählt er zu den eher kleinen Landwirten der Region. Seine Ernte verkauft er an Agrarkonzerne wie den US-Multi Cargill, der sie exportiert – vor allem nach China und in andere asiatische Länder, aber auch in die EU. Dort werden de Castros Sojabohnen und Maiskörner an Masttiere verfüttert und kommen schliesslich zu Fleisch «veredelt» auf den Teller der Verbraucher:innen.

Es ist ein alltäglicher Ablauf in der globalisierten Ökonomie und wäre nichts Besonderes – wenn de Castros Äcker nicht mitten im Amazonaswald lägen. Wo er heute Totalherbizide versprüht, erhoben sich vor zwanzig Jahren Urwaldriesen, durch die sich Affen hangelten. Doch von dieser Wildnis sind nur noch rechteckige Waldparzellen übrig geblieben – wie mit dem Lineal gezogen und exakt so gross, dass sie den gesetzlichen Vorschriften entsprechen. Dazwischen: Monokulturen, so weit das Auge reicht.

De Castro ist einer von Tausenden Sojabäuer:innen in der Region des unteren Rio Tapajós, eines der mächtigsten Amazonaszuflüsse. Und damit ist er – oder besser gesagt, das Landwirtschaftsmodell, das er repräsentiert – dann doch ein Problem für den Globus.

Mais- und Sojabauer Vilmar de Castro
Mais- und Sojabauer Vilmar de Castro in seinem Betrieb im brasilianischen Bundesstaat Pará.

Die Amazonasregion wird in wenigen Tagen im Blickpunkt der Öffentlichkeit stehen, wenn in Belém Regierungsvertreter:innen aus aller Welt zur 30. Weltklimakonferenz zusammenkommen. In der Grossstadt am Amazonasdelta, rund 750 Kilometer östlich von de Castros Farm, wollen sie beraten, wie die Klimaerhitzung noch in beherrschbare Bahnen zu lenken sein könnte.

Obwohl Beléms Infrastruktur kaum für das Grossereignis ausgelegt ist, hat Brasiliens Präsident Lula da Silva die Stadt gezielt zum Austragungsort der Konferenz bestimmt. Er will den Amazonas als Schlüssel zur Lösung des Klimaproblems präsentieren. Amazonien werde «zur Welt sprechen», hat er angekündigt – und dies mit der Forderung nach Milliardensummen von den reichen Industrienationen verbunden. Lula argumentiert, der Schutz des Regenwalds, der einen riesigen CO₂-Speicher darstellt, könne nicht allein die Aufgabe Brasiliens sein.

Bereits im September stellte er die Tropical Forest Forever Facility vor. Diese soll ähnlich wie ein Investmentfonds funktionieren. Staaten und Investor:innen zahlen Kapital ein, das am Finanzmarkt angelegt wird. Aus den Erträgen erhalten Länder mit tropischen Wäldern dann regelmässige Zahlungen – quasi Dschungeldividenden. Rund zwanzig Prozent der Mittel sollen direkt an traditionelle Gemeinschaften fliessen.

Es gehört zu den Widersprüchen Brasiliens, dass kurz nach Lulas Ankündigung der halbstaatliche Ölkonzern Petrobras bekannt gab, dass er in der Amazonasmündung nach Öl bohren werde. Während Lula das Vorhaben befürwortet, lehnen es Umweltschützer:innen strikt ab. Sie befürchten ein Umweltdesaster in einem der wertvollsten Ökosysteme der Welt. Das Klimanetzwerk Observatório do Clima titelte sarkastisch auf seiner Website: «Regierung sabotiert COP».

Lula hingegen rechtfertigt seine Entscheidung damit, dass Brasilien seinen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt nicht vergessen dürfe. Tatsächlich ist Brasiliens Amazonasregion nicht nur Wildnis, sondern auch Heimat von rund 25 Millionen Menschen. Viele von ihnen wünschen sich Entwicklung: Strassen, Häuser, Arbeit, Gesundheit, Bildung, Wohlstand, Nutzung der natürlichen Ressourcen – so wie es Europa, Japan und die USA jahrhundertelang vorgemacht haben. Die Rettung des Amazonaswalds könne daher nur gelingen, wenn seine Bewohner:innen in Würde leben könnten.

Die Frage bleibt, welche Art von Entwicklung Amazonien verträgt, ohne zerstört zu werden. Rund 20 Prozent des Regenwalds sind bereits abgeholzt worden; bei 25 Prozent Entwaldung, so schätzen Wissenschaftler:innen, werde ein Kipppunkt erreicht, an dem der ständige Kreislauf aus Verdunstung, Wolkenbildung und Regen kollabiere. Dann setze die Versteppung ein – mit weitreichenden Folgen für die ganze Welt.

Haupttreiber der Waldvernichtung sind die Viehwirtschaft und der Sojaanbau. Sie stecken auch hinter Brasiliens ungewöhnlicher Klimabilanz. Denn seine Energie erzeugt das Riesenland grösstenteils CO₂-frei, vor allem durch Wasserkraft und zunehmend auch aus Wind. Dennoch ist es einer der grössten Klimasünder. Der Grund: die Umwandlung von Wald in landwirtschaftliche Flächen, bei der viel CO₂ freigesetzt wird. Während die Rinderhaltung im zentralen Amazonas für den Grossteil der Abholzung verantwortlich ist, dringt die Sojaindustrie von Süden her vor. Ihre Expansion wird getrieben von Männern wie Vilmar de Castro.

De Castro ist Nachkomme europäischer Einwander:innen, die einst im Süden Brasiliens siedelten. Wie Hunderttausende andere zog es ihn Anfang des Jahrhunderts nach Norden, auf der Suche nach Land und Arbeit. Er folgte dem Ausbau der Bundesstrasse BR-163 ins Amazonasbecken. Die Strasse verbindet Brasiliens Sojakammer, den Bundesstaat Mato Grosso, mit dem boomenden Umschlaghafen Santarém am Amazonas und wird auch Soja-Highway genannt.

Die riesigen Felder entlang ihrer Ränder werden ab und zu von Silos unterbrochen, die aus der flachen Landschaft ragen, daneben stehen die schmucklosen Hallen der Agrarfirmen, die Saatgut, Dünger und Pestizide verkaufen. Ohne den Einsatz enormer Mengen an Agrarchemikalien wäre die intensive Landwirtschaft in den Tropen gar nicht möglich. Die Trostlosigkeit der Landschaft spiegelt sich in einer Statistik wider: Der Bundesstaat Pará hat die zweithöchste Entwaldungsrate Brasiliens, eine Fläche von der zweieinhalbfachen Grösse der Schweiz wurde hier seit 1990 abgeholzt. Es ist der Preis, den Brasilien dafür zahlt, der grösste Agrarexporteur der Welt zu sein.

Aber sogar der Landwirt Vilmar de Castro findet die Entwaldung problematisch. Man müsse ein Gleichgewicht finden, sagt er und widerspricht damit dem Gros seiner Kolleg:innen und ihrer Lobby im brasilianischen Kongress. Dort werden fast monatlich neue Gesetze zur Aufweichung des Umweltschutzes eingebracht. «Ich muss nicht mehr abholzen», bekräftigt hingegen de Castro. «Ich bin glücklich mit dem, was ich habe.»

Es ist ein Satz, den man 2300 Kilometer weiter westlich wieder hört – dort, wo Brasiliens Amazonasregion an Bolivien grenzt. Diesmal von einer jungen Frau mit langen Ohrringen. Celeste Suruí ist eine «liderança», eine Anführerin ihrer indigenen Gemeinschaft, der Paiter-Suruí. Sie hat eine Geschichte zu erzählen, die von einem ganz anderen Entwicklungsmodell handelt.

Rund 1700 Menschen zählen heute zu den Paiter-Suruí, die in einem Reservat leben, das etwas kleiner ist als das Tessin. Es heisst «Sete de Setembro» (7. September), was an den Tag im Jahr 1969 erinnert, als die Indigenen erstmals Kontakt mit den Weissen hatten. Damals ermutigte die Militärdiktatur die Brasilianer:innen dazu, im Amazonas zu siedeln, das Motto lautete: «Land ohne Menschen für Menschen ohne Land.»

Die Bundesstrasse BR-364.
Die Bundesstrasse BR-364.

Kurz darauf waren die Paiter-Suruí fast ausgelöscht, dezimiert von eingeschleppten Krankheiten. Von rund 5000 Menschen blieben circa 300 übrig, weswegen sich die Paiter-Suruí heute als «Überlebende» betrachten.

Der Weg zu ihnen führt wieder über eine Bundesstrasse, die BR-364. Rechts und links vom Asphalt erstrecken sich auch hier stundenlang nur Felder und Viehweiden. Erst als man abbiegt und über eine Staubpiste das Reservat erreicht, steht dort plötzlich wieder dichter und kühler Wald.

Darin beweisen die Indigenen: Man muss den Wald nicht zerstören, um Wohlstand zu schaffen. Mit Unterstützung von NGOs haben die Paiter-Suruí eine funktionierende Waldwirtschaft aufgebaut, in deren Zentrum eine indigene Genossenschaft steht. Über sie vermarktet die Gemeinschaft Nüsse, Kakao, Bananen, Öl und Kaffee und hat so einen bescheidenen Wohlstand geschaffen. «Wir sind das Gegenbeispiel zum Rinderwahnsinn da draussen», sagt Celeste Suruí.

Sie selbst baut Kaffee an – nicht irgendeinen, sondern Spezialkaffee der Sorte «Robusta amazônico». Brasiliens grösste Kaffeerösterei 3 Corações verkauft ihn als Gourmetedition mit dem Namen «Tribos» – Stämme.

Celeste Suruí führt über ihre kleine Plantage. Sie ist umstellt von grossen Bäumen, in denen krächzende Aras nisten. Pestizide setzt sie nur bei akutem Schädlingsbefall ein. «Wenn der Wald gesund ist, geht es auch dem Kaffee gut», lautet ihr Motto.

Die 24-Jährige ist kurz angebunden, sie hat eine weite Reise vor sich. In São Paulo findet eine Preisverleihung statt, zu der sie als Vertreterin der indigenen Kaffeebäuer:innen eingeladen ist. Ein Paiter-Suruí hat bei einer Verkostung mit seinem Kaffee die Maximalnote von hundert Punkten erreicht – eine kleine Sensation.

Wahrscheinlich wären solche Erfolge ohne die Beharrlichkeit eines Mannes nicht möglich: Almir Suruí ist der Kazike, das Oberhaupt, der Paiter-Suruí, und es gelingt ihm regelmässig, finanzielle Unterstützung für die Projekte seiner Gemeinschaft zu akquirieren. Er tritt – mit Federschmuck und Smartphone – erfolgreich als Mittler zwischen den Welten auf. Der 51-Jährige sitzt auf der Terrasse des Restaurants, das im Reservat für Wissenschaftler:innen und Neugierige eröffnet wurde, die nun immer öfter zu Besuch kommen.

Stolz berichtet er, dass sich die Paiter-Suruí am Handel mit CO₂-Zertifikaten beteiligen wollen, um vom Wald zu profitieren. Doch es ist eine umstrittene Idee, die von anderen indigenen Gemeinschaften abgelehnt wird, weil sie fürchten, die Autonomie über ihre Territorien zu verlieren.

«Wir erhoffen uns das Gegenteil», sagt Almir Suruí: «die Kontrolle über unser Reservat zurückzugewinnen.» Denn trotz ihres wirtschaftlichen Erfolgs fühlen sich die Paiter-Suruí bedroht. Die Weiden der Viehzüchter:innen reichen zentimetergenau bis an ihr Reservat heran. Nachts hört man die Schüsse von Jägern durch den Wald hallen, die Wildtiere töten. Von anderswo dringen bewaffnete Goldsucherinnen ein und verseuchen die Flüsse mit Quecksilber. Häufig rauben Holzfäller wertvolle Stämme aus dem Dschungel für die Sägewerke der Region.

Es wird deutlich, wie in Amazonien die Vorstellungen von Entwicklung aufeinanderprallen. Die Indigenen betrachten den Wald als lebendigen Organismus, der einen Wert an sich hat. Jüngere Studien belegen, dass der Dschungel nirgends so intakt ist wie in den indigenen Reservaten. Dem steht die Logik der europäischstämmigen Siedler:innen gegenüber, derzufolge der Wald das wirtschaftliche Wachstum behindert. «Wozu brauchen so wenige Indigene so viel Wald?» lautet ein typischer Ausspruch in den landwirtschaftlichen Zentren Amazoniens.

Ob die COP 30 in Belém eine Lösung für die Widersprüche findet und ob Amazonien gehört wird, wie Lula versprochen hat, ist überaus fraglich. Brasiliens Umweltschützer:innen, Indigene, Kleinbauern und traditionelle Fischerinnen kritisieren, dass ihnen nur eine Statist:innenrolle zugewiesen worden sei. Zur Halbzeit der Konferenz wollen sie daher in einem grossen Protestmarsch durch Belém ziehen. Almir Suruí formuliert es so: «Ich will als Bewohner Amazoniens nicht konsultiert werden. Ich will am Verhandlungstisch sitzen.»

Die Recherchen fanden im Rahmen von Pressereisen statt, die das katholische Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat und der WWF Brasilien organisierten.