Sachbuch: Wenn Einvernahmen retraumatisieren

Nr. 11 –

In ihrem Buch «Hast du Nein gesagt?» beleuchten die Journalistinnen Miriam Suter und Natalia Widla den Umgang des Schweizer Justizsystems mit Opfern sexualisierter Gewalt.

«Je n’ai jamais promis», eine Arbeit der Künstlerin Aline Kündig: ein Kissen mit dem Aufdruck «Je n’ai jamais promis»
Es gibt kein Recht auf Sex: «Je n’ai jamais promis», eine Arbeit der Künstlerin Aline Kündig. Aus der Ausstellung «Restons-en là», bis 15. April in der Galerie Art Now Projects in Carouge.

«Würde ich vergewaltigt werden, würde ich keine Anzeige machen.» Wer sich mit sexualisierter Gewalt und der Schweizer Justiz auseinandersetzt, wird sich über so einen Satz kaum wundern. Überraschend ist jedoch, von wem diese Aussage kommt: Nämlich von mehreren (ehemaligen) Polizistinnen, mit denen die Journalistinnen und gelegentlichen WOZ-Autorinnen Miriam Suter und Natalia Widla für ihr soeben erschienenes Buch «Hast du Nein gesagt?» gesprochen haben. In unterschiedlichen Textformen beleuchten die beiden Autorinnen drei Institutionen, mit denen Opfer von sexualisierter Gewalt, die eine Anzeige machen wollen, in Kontakt kommen: die Polizei, die Opferhilfe und das Recht. Neben prominenten Stimmen wie der SP-Nationalrätin Tamara Funiciello und der Expertin Agota Lavoyer, die beide an vorderster Front für die jüngst gelungene Revision des Sexualstrafrechts gekämpft haben, oder Bundesrätin Karin Keller-Sutter kommen auch Betroffene von sexualisierter Gewalt, Opferberaterinnen und eben Polizist:innen zu Wort.

Emotionslos oder hysterisch

Das Buch ist dort am stärksten, wo es hinter die Kulissen der Polizeiarbeit blickt. Eine kurze Reportage erzählt vom Besuch in der Interkantonalen Polizeischule Hitzkirch, wo sich eine Ausbildnerin alle Mühe gibt, in zweieinhalb Stunden (mehr Zeit ist im Lehrplan nicht vorgesehen) die Grundlagen im Umgang mit Opfern von sexualisierter Gewalt zu vermitteln, und sich die Aspirant:innen in Rollenspielen üben. «Würde jede Ersteinvernahme in der Praxis so ablaufen, gäbe es dieses Buch nicht», so das Fazit von Suter und Widla. Woran es liegt, dass es in der Realität eben doch oft anders läuft, darüber geben unter anderem zwei ehemalige Polizistinnen Auskunft. Sie erzählen vom Sexismus, den sie während ihrer Ausbildung und im Polizeikorps selbst erfahren haben, und wie verbreitet Vergewaltigungsmythen dort noch immer sind. An dieser Stelle wäre es interessant gewesen zu erfahren, ob es Studien über diese Verschränkung von Cop Culture und Rape Culture gibt.

Für Betroffene von sexualisierter Gewalt ist es noch immer Glückssache, wer ihnen gegenübersitzt, wenn sie eine Anzeige machen wollen. Davon zeugen auch die sehr schwer verdaulichen Testimonials von zwei Frauen und einer nonbinären Person, die sexualisierte Gewalt erfahren und sich an die Polizei gewendet haben. Wie zermürbend und retraumatisierend die Einvernahmen sein können. Wie den Opfern mit Fragen – «Was hast du getragen?», «Warum hast du dich nicht gewehrt?» oder eben: «Hast du Nein gesagt?» – implizit eine Mitschuld auferlegt wird. Dass es ihnen oft zum Nachteil ausgelegt wird, wenn sie Alkohol getrunken hatten, während dasselbe für die Täter strafmildernd wirken kann. Wie ihr Verhalten auch nach der Tat noch infrage gestellt wird, weil sie etwa zu emotionslos oder eben «hysterisch» über den Übergriff berichten.

«Gute Fehlerkultur»?

Es ist auch Glückssache, in welchem Kanton sich ein Opfer eines sexuellen Übergriffs an die Behörden wendet: In einigen Kantonen gibt es mittlerweile Abteilungen bei der Polizei, die sich auf sexualisierte Gewalt spezialisiert haben. Die Zusammenarbeit mit diesen sei gut, sagen etwa auch die Opferberaterinnen. Eine Vorreiterrolle nimmt diesbezüglich der Kanton Waadt ein, wo schweizweit am meisten Sexualstraftäter verurteilt werden und wo das Unispital Lausanne eine eigene Abteilung für Gewaltmedizin hat. Es ist darum nicht ganz verständlich, wieso im Buch zwei Mitarbeiterinnen derselben Zürcher Opferberatungsstelle ausführlich zu Wort kommen, jedoch keine Stimme aus dem Kanton Waadt.

Mehr Diversität wünschte man sich auch bei den Testimonials der Betroffenen, alles eher junge Personen aus der Mittelschicht mit Schweizer Pass. Dennoch sind diese Fallbeispiele so eindrücklich wie erschreckend. Sehr explizit werden da die Übergriffe, die Gewalt beschrieben. Es ist aber auch schwer auszuhalten, was die Betroffenen im anschliessenden Verfahren über sich ergehen lassen mussten.

Die grösste Schwachstelle des Buches ist leider sein Schluss: Im Interview mit Karin Keller-Sutter, damals noch Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, werden etwa häusliche und sexualisierte Gewalt vermischt und streitbare Aussagen wie «Die Polizei verfügt heute über Selbstreflexion und eine gute Fehlerkultur» unhinterfragt stehen gelassen. Dabei wäre es doch gerade interessant gewesen zu erfahren, wie Keller-Sutter etwa erklärt, dass lediglich acht Prozent der Opfer Anzeige erstatten. Dass die Autorinnen ausgerechnet der Bundesrätin das letzte Wort überlassen, ist unverständlich. Man hätte sich eine abschliessende Einordnung oder einen Ausblick in Form eines Nachworts gewünscht.

Dennoch zeigt dieses Buch auf, wie wirkmächtig Vergewaltigungsmythen auch im 21. Jahrhundert noch sind, und leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass sich das Wissen um Anlaufstellen und Opferhilfe verbreitet, dass Betroffene von sexueller Gewalt wissen, worauf sie sich bei einer Anzeige einlassen. Auch wenn Wissen nicht unbedingt Macht ist, kann es doch Stärke und Empowerment bedeuten.

Buchcover von «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt»

Miriam Suter und Natalia Widla: «Hast du Nein gesagt? Vom Umgang mit sexualisierter Gewalt». Mit einem Vorwort von Franziska Schutzbach. Limmat Verlag. Zürich 2023. 176 Seiten. 25 Franken.