Aus dem Untergrund: Zeitmaschine Nautilus
Eine riesige Bohrmaschine gräbt sich durch den Boden unter der neuseeländischen Stadt Auckland und bringt Schätze und Schichten aus prähistorischer Vergangenheit zum Vorschein. Giulia Parlato hat dieses Gedächtnis der Landschaft mit ihrer Kamera eingefangen.

Schscht, was kauert da für ein Koloss am Strand? Ganz buckelig und bröckelig wirkt er, bedauernswert irgendwie, so voller Blasen und Beulen aus Stein, als hätte man ihn ausgesetzt. Ein Aussätziger.
Genau genommen ist er ein Ausgespuckter. Tief aus der Erde kommt er her, aus ferner Vergangenheit, zutage gefördert von einem stählernen Giganten, der sich durch unterirdische Gezeiten gräbt. 200 Meter misst dieser vom Maul bis zum Schwanz. Er wühlt ein Wurmloch ins subterrane All.
Schscht, tritt sachte auf. Wer weiss, ob Sandwürmer nur auf dem Wüstenplaneten «Dune» zu Hause sind. Und überhaupt: Das ist nicht dein Sand, das ist nicht dein Strand, er gehört den Indigenen, denen, die schon immer hier lebten. Schau den Koloss: Warum glaubst du, wieder zurückgeben sei wiedergutmachen?
Schau genau, welch wunderliche Kreaturen hier einst hausten, vor Jahrmillionen, abgesunken, versunken, in Sedimenten der Urmeere gespeichert. Spitznasig, langschwänzig, mit tausend Trippelfüsschen – als wärs ein Wasserasselwesen. Oder spiralgeringelt, schneckengerollt, Kopffüssler also, auch Ammoniten genannt, vielleicht gar ein Nautilus?





Ein Nautilus wäre naheliegend. Dieser urzeitliche Kalmar im gewundenen Kalkschalengewand schwamm einst in südpazifischen Gewässern. Ein bescheidenes Tier, behauste nur eins seiner vielen Gemächer. Die anderen Kammern benutzte der Kalmar, um Auftrieb und Absinken zu regulieren, sie waren mit Gas gefüllt. Daher hört der Nautilus noch auf einen weiteren Namen: Perlboot.
Schscht, die «Nautilus». So nannte Kapitän Nemo bei Jules Verne sein U-Boot. Navigierte es «20 000 Meilen unter Meer», als er im südlichen Pazifik zwischen den Aucklandinseln gerade «Die geheimnisvolle Insel» ansteuerte, ein Vulkan ausbrach und die «Nautilus» für immer unter sich begrub.
«Nautilus»
Unter der Leitung von Matteo D’Aloja vom italienischen Tiefbauunternehmen Ghella und dem Kurator Alessandro Dandini haben fünf Fotograf:innen für eine Buchpublikation jeweils ein Ghella-Projekt begleitet.
Giulia Parlato entschied sich, den Bau eines 16,2 Kilometer langen Tunnels unter der neuseeländischen Grossstadt Auckland zu dokumentieren. Der Tunnel dient dem Abwassermanagement der Metropole und soll die Trinkwasserversorgung sichern. In ihrem Projekt «Nautilus» – der Name bezieht sich auf die 200 Meter lange Tunnelbohrmaschine, die Parlato an das gleichnamige U-Boot aus Jules Vernes Romanen erinnerte – hat sich die Fotografin vor allem für das historische Gedächtnis interessiert, das der Tunnelbau an die Oberfläche bringt.
Stefano Graziani, Rachele Maistrello, Domingo Milella, Luca Nostri, Giulia Parlato: «Nuove avventure sotterranee». Verlag Quodlibet. Macerata 2024. Sechs Bände à 44 Seiten im Schuber.
Manche munkelten von einem Seeungeheuer, einem Alien aus den Tiefen des Meeres. Das passt, irgendwie, zu einem Unterwasserwesen, ganz Technik, ganz aus Stahl und doch so organisch. Es passt, sogar ziemlich gut, zum stählernen Giganten an den Gestaden Neuseelands, der sich durch den Untergrund von Auckland frisst. Science-Fiction, Urzeit und Gegenwart: Im «Nautilus» kommen sie zusammen.
Der, die, das «Nautilus» – ein gestaltwandelndes, anthropomorphes Wesen. Schau hin, schau hinein: Was erkennst du? Du befindest dich im Bauch einer Bohrmaschine. Sie überwindet, in ihr mischen sich Raum und Zeit. Aber schau die Bolzen, die geschlossenen Luken, schau die Schläuche, die sich winden und im Nirgendwo verschwinden. Blick in den Bildschirm, modernste Technik, und doch, wie verstaubt, ja archaisch alles wirkt. Was verbirgt sein Bild, und wem gehört der Bauch, in den er schaut, tatsächlich?
Vielleicht ists gar der Schiffsbauch der «Nostromo» aus Ridley Scotts «Alien». Auch sie schraubte sich tiefer und tiefer, nicht unter Wasser wie die «Nautilus», sondern ins Weltall hinein. Bis dorthin, wo sich das Raumschiff verlor, sich im Bauch auch die Grenzen zwischen «technisch» und «organisch» vermischten. Wo – «out of the blue» – ein ausserirdisches Wesen aus seinem Innern entwischte.





Schscht, sprich leise. Wer sagt, dass das in Formaldehyd eingelegte Wesen nicht ebenso aus dem Blauen erwacht? Schau, wie es sich reckt, wie ein Finger gestreckt, als mahnten die Ahnen aus der Vergangenheit vor der Zukunft. Der Bauch der Bohrmaschine fördert es aus dem Tunnelbau wie durch ein Wurmloch ans Licht: kein Alien, kein Seeungeheuer – wo immer wir bohren, letztlich stossen wir nur auf unser eigenes Tun.
Wir kolonisieren den Raum, egal ob unter-, ober- oder überirdisch. «Koyaanisqatsi» nennen es die Hopi, wir haben die Welt aus dem Gleichgewicht gebracht. Auckland versinkt im eigenen Dreck. Geflutete Strassen, das Trinkwasser verschmutzt, sobald es regnet – und der Regen kommt immer häufiger und heftiger. «Koyaanisqatsi» prophezeit unseren Untergang.
Schscht, stell dir vor, die Bohrmaschine soll Auckland retten. Auf ihr ruht alle Hoffnung, noch bevor sie tauchte, tauften sie die Kinder der Stadt. Nicht auf den Namen Nautilus, nein, nach einem Stern im Sternbild der Plejaden haben sie gegriffen, um diese Maschine zu benennen: Hiwa-i-te-rangi – in der Sprache der Maori verspricht er eine blühende Zukunft.
Hiwa-i-te-rangi. Wer hätte gedacht, dass ein Bohrer einst zur Wunscherfüllungsmaschine würde.