Alpwirtschaft: Ein letzter Blick ins sprudelnde Leben

Nr. 33 –

In den Alpen gibt es immer weniger ungefasste Quellen. Ein vielfältiger Lebensraum droht zu verschwinden. Könnten Ziegen das Problem entschärfen?

Kühe an einer Tränke auf dem Rigi Dossen
Sie gehören nicht zur natürlichen Fauna der Bergquellen: Kühe auf dem Rigi Dossen. Foto: Gaëtan Bally, Keystone

Ein Bagger klebt im Berner Gantrischgebiet am Berghang, reisst eine klaffende Wunde in die Alpwiese und verwandelt sie in eine Baustelle. An einem Seil baumelt unter einem Helikopter ein riesiger Wassertank aus Plastik, der an ein U-Boot erinnert und von Bauarbeitern im Untergrund versenkt wird. Hier, auf der Alp Grenchenberg, wird einer Quelle das Wasser abgegraben.

In den Bergen gibt es immer weniger naturbelassene Quellen. In den häufiger werdenden Trockensommern dörren die Alpen aus. Und um Alpbetriebe mit Viehtränken und entsprechendem Wasserbedarf trotzdem weiterführen zu können, müssen immer mehr neue Quellen gefasst werden, was in der Regel von Bund und Kantonen subventioniert wird.

Späte Erkenntnis

«Der Druck auf die letzten natürlichen Quellen steigt», bestätigt Christian Imesch. Der Gewässerexperte arbeitet bei der 2020 gegründeten Beratungsstelle Quell-Lebensräume, die im Auftrag des Bundesamts für Umwelt tätig ist. Vor allem seit dem trockenen Hitzesommer 2018 seien neue Quellfassungsprojekte bei Alpbetreiber:innen ein grosses Thema, sagt Imesch.

Das Wasser wird für die Älpler:innen zur Existenzfrage. Gemäss diversen Klimaszenarien wird das Wasservorkommen im Alpenraum weiter zurückgehen: Da sich in den Bergen kaum Grundwasserreserven bilden können, kommt dem Schmelzwasser eine grössere Bedeutung zu – das wegen der tendenziell schneeärmeren Winter rarer wird. Ausserdem sei die Vielfalt der Fauna in den Quellen lange unterschätzt worden: «Erst seit etwa zehn Jahren», so Imesch, «wächst das Wissen und das Bewusstsein um den Wert der Quellen als natürlicher Lebensraum.»

An den Übergängen zwischen Unter- und Oberwelt, wo das Wasser eine konstante Kühle aufweist, leben auf den ersten paar Quadratmetern nach dem Quellaustritt viele Tiere, von denen ein grosser Teil hierzulande nur auf wenigen Alpen oder gar einem einzigen Gebirgszug vorkommt: Eiszeitrelikte wie der Alpenstrudelwurm, die Brunnenschnecke oder die Köcherfliege Apatania helvetica konnten in diesen Quellen bis heute überleben. Auch viele weitere Arten von Köcherfliegen und Steinfliegen sind auf Quellen angewiesen. Im klaren Wasser entdeckt man zudem Krebstiere, Muscheln, Wasserschnecken – und über 600 seltene Kieselalgen: mikroskopisch kleine Organismen mit faszinierenden Formen und Mustern, die CO₂ binden und vor Hunderten Millionen Jahren entstanden sind.

Über siebzig Prozent dieser «Quellspezialisten» stehen auf der Roten Liste, viele zählen zu den «prioritären Arten», für die die Schweiz besondere Verantwortung trägt. Quellen zählen zwar zu den schützenswerten Lebensräumen, werden aber in keinem Gesetz und keiner Verordnung explizit erwähnt – anders als etwa Moore. Kleinere Quellen sind sogar meist privates Grundeigentum.

Wie schlecht es um die Quellen steht, wird auch am 3. Forum Alpwirtschaft im Vorfeld dieses Alpsommers klar. Thema des Forums im Inforama-Kompetenzzentrum für Alplandwirtschaft des Kantons Bern in Hondrich: Wassermanagement im Sömmerungsgebiet. Zu den Referent:innen gehört auch SVP-Bundesrat Albert Rösti, der hier einst als gelernter Agraringenieur unterrichtete. Heute spricht er als Umwelt- und Energieminister vom gesetzlichen Handlungsspielraum, um Projekte voranzutreiben, die aus Naturschutzgründen gestoppt wurden: «Es geht stets um eine Abwägung zwischen Schutz und Nutzen, auch beim Wasser.»

Ernst Wandfluh, SVP-Nationalrat und Präsident des Vereins Alpwirtschaft Bern, präsentiert ein Rezept, das derzeit gefördert wird, nämlich Wasserversorgung und Stromanschluss zu kombinieren. So wie 2020 auf der Ueschinenalp ob Kandersteg. Dort wurden über sechs Kilometer Wasserleitungen verlegt, auch durch ein Feuchtgebiet, wie Wandfluh betont. Projektleiter: Albert Röstis Bruder Hans Rösti, der Präsident der Alpkorporation. Kostenpunkt: 2,1 Millionen Franken, wovon sechzig Prozent von Bund und Kanton übernommen wurden. Krönender Abschluss des Projekts: eine 5G-Mobilfunkantenne.

«Wie geht ein Ingenieurbüro an eine Wassererschliessung auf Alpen heran?»: Unter diesem Titel wird auch eine Quellfassung auf dem Otterepass ob Frutigen auf über 2000 Metern vorgestellt – unweit eines Amphibienlaichgebiets von nationaler Bedeutung. Sie hätten den Ämtern klar machen müssen, dass das Wasser für die Menschen und nicht für die Frösche da sei, sagt der referierende Ingenieur. Dass Quellen als «schutzwürdige Lebensräume» gelten, erfährt an diesem Forum nur, wer sich in die hinterste Ecke des Saals verirrt. Dorthin wurde das Plakat der Beratungsstelle Quell-Lebensräume verbannt.

Subventionen steigen

Seit 2014 haben sich die Subventionen für Wasserversorgungen im Sömmerungsgebiet versechsfacht, auf rund sechs Millionen Franken pro Jahr. Wie viele Quellen tatsächlich neu gefasst wurden, ist allerdings nicht bekannt. «Noch immer werden zig Quellen meist ohne Baubewilligung und ohne Rücksicht auf die hoch spezialisierten Arten verbaut», sagt Nathalie Rutz, Medienverantwortliche von Pro Natura.

Grund für die Zunahme der Subventionen sind Sanierungen, Aus- und Ersatzbauten – sowie neue Quellerschliessungen: Teilweise seien die Quellschüttungen, also die austretende Wassermenge, in den letzten Jahren derart gesunken, dass man die Fassung zusätzlicher Quellen habe erwägen müssen, schreibt das Bundesamt für Landwirtschaft (BLW). Aufgrund der Klimaerhitzung sollen die finanziellen Mittel dafür in den nächsten Jahren nochmals deutlich erhöht werden. Wobei die Alpen mit Kühen oder Milchziegen bestossen sein oder «innovative Nischennutzungen mit hoher Wertschöpfung» aufweisen müssen, um subventionsberechtigt zu sein, wie es bei der zuständigen Behörde des Kantons Bern heisst.

Rund 172 000 Milch- und Mutterkühe sowie 290 000 Rinder verbringen jeweils rund drei Monate auf der Alp, dazu etwa 140 000 Schafe und 40 000 Geissen. Auf einem Alpbetrieb inklusive Käserei macht der Bedarf der Kühe den weitaus grössten Anteil des Wasserverbrauchs aus, wie aus einer Studie der Hochschule für Agronomie, Forst- und Lebensmittelwissenschaften hervorgeht. Eine Kuh braucht demnach je nach Milchleistung 80 bis 150 Liter Wasser pro Tag – an Hitzetagen noch mehr. Das macht bei fünfzig Kühen um die 7500 Liter täglich. Eine Ziege braucht etwa vier Liter Wasser pro Tag.

Doch gerade die wasserintensive Bewirtschaftung wird am stärksten gefördert: Pro Kuh wird ein Sömmerungsbeitrag von 400 Franken und ein Alpungsbeitrag von 370 Franken bezahlt, für eine Ziege oder ein Schaf knapp ein Fünftel davon. Die Alpbetriebe sind zudem vielerorts grösser und technischer geworden. So ist die Zahl der Betriebe mit mindestens hundert «Grossvieheinheiten» seit 2003 kontinuierlich gestiegen. Die höchstzulässige Bestossung wird aufgrund der verfügbaren Grasmenge kalkuliert. Das vorhandene Wasser ebenso in die Berechnung einzubeziehen, ist momentan kein Thema: Auf den allermeisten Alpen gebe es keine Limitierung bei der Wasserversorgung, schreibt das BLW.

Kühe belasten den Wasserbestand nicht nur durch ihren Konsum: Die schweren Tiere können durch die Beweidung bis in hohe Lagen für Erosion sorgen, die fragilen Quellhabitate vertrampeln und Quellen in Gülle verwandeln; ihre Exkremente führen zu Verunreinigungen des Wassers mit Kolibakterien.

Angesichts des zunehmenden Wassermangels stellen sich heikle Fragen: Ist die Viehsömmerung in den Alpen nachhaltig? Oder wäre eine vermehrte Umstellung auf Ziegen vorstellbar, die früher vielerorts die Alpen prägten und sich optimal eignen, um eine Verbuschung und Verwaldung zu verhindern – und äusserst schonend für die Biodiversität sind? Gäbe es andere, weniger wasserintensive Betriebsarten? Und überhaupt: Wie steht es mit einem Verbot von Schneekanonen sowie Auflagen für Ferienhäuser?

Schutzwürdigkeit aufzeigen

«Eine Anpassung auf vielen Alpen wird nötig sein», sagt Selina Droz, Geschäftsleiterin des Schweizerischen Alpwirtschaftlichen Verbands (SAV). Doch wegen der Wolfsrudel sei ein Umstellen auf Kleinwiederkäuer zurzeit nicht besonders beliebt. Beim SAV liege der Fokus «vor allem auf der Wasserinfrastruktur: bei Sanierungen, Wasserspeichervergrösserungen oder Quellerschliessungen».

Die Beratungsstelle Quell-Lebensräume dagegen ruft dazu auf, auf die Fassung von Quellen möglichst zu verzichten. «Für eine Viehtränke braucht es kein Quelltrinkwasser», sagt Christian Imesch. Die Beratungsstelle rät zudem, Quellen auf Kuhweiden zu umzäunen. Für Imesch ist klar: «Es bedarf der Sensibilisierungsarbeit für das Thema», noch sei kaum bekannt, dass Quellen auch Lebensräume mit einer einzigartigen Artenvielfalt seien. «Es ist wichtig, dass wir frühzeitig involviert werden, damit wir die Schutzwürdigkeit von Quellen aufzeigen und – wenn eine Fassung bewilligt wird – Ersatzmassnahmen einbringen können. Wir wollen alle Akteure ins Boot holen und gemeinsam Lösungen entwickeln.»

So wurde Imesch etwa beim Projekt im Gantrischgebiet auf der Alp Grenchenberg beigezogen. Statt der gesamten Quelle wird hier nur ein Teil des Wassers gefasst. «Die neue Quellfassung ist ein Generationenprojekt», sagt Hansueli Zwahlen, Präsident der Alpgenossenschaft. «Man weiss nie, was kommt – doch wir sind zuversichtlich, dass wir so den herkömmlichen Alpbetrieb für die nächsten fünfzig Jahre sichern können.»

Ein letzter Blick ins sprudelnde Leben – dann fährt der Bagger auf. Schaufel für Schaufel gräbt er den Boden ab, bis vom Quelllebensraum nur noch Schlamm und daneben ein riesiger Lehmhaufen zu sehen sind. Wo die Quelle war, sind jetzt ein Schacht und ein Rohr. Daraus fliesst das Wasser, das man für die Natur übrig lässt. In fünf Jahren wird die Quelle untersucht. «Wir wissen noch nicht, wie gross bei Quellhabitaten die Fähigkeit zur Regeneration ist», sagt Christian Imesch.