Messe für künstliche Intelligenz: Talentjagd in Oerlikon
Technologiekonzerne investieren Milliarden in neue Datenzentren und fluten den Markt mit KI-Anwendungen. In Zürich feiert die Branche den Hype mit einem «Festival».
In der Eventhalle Stage One in Zürich Oerlikon herrscht an diesem Donnerstag, dem 2. Oktober, ein grosses Gewusel. Menschen mit Badges um den Hals gehen zwischen den Ständen umher, an denen Universitäten, Forschungslaboratorien und Firmen ihre neusten Errungenschaften in Sachen künstliche Intelligenz vorstellen. Hin und wieder stolpert einem ein humanoider Roboter über den Weg. Das metallfarbene Ding ist etwas kleiner und dünner als ein Durchschnittsmensch und winkt gerne mit der Hand, wenn man es länger anschaut.
Was hier stattfindet, ist der «AI+X Summit», der «Flagship Event» eines einwöchigen Festivals zum Thema künstliche Intelligenz. «Wo Weltklassetechnologie auf Schweizer Zuverlässigkeit trifft» heisst es im Selbstbeschrieb des Festivals alles andere als bescheiden. Man kann es auch etwas weniger blumig sagen: Wissenschaft trifft hier auf Zürcher Standortmarketing. Und beide lassen sich nur zu gern auf die grossen Technologiekonzerne wie Meta, Google und IBM ein, die das Treffen mitsponsern und prominent zu Wort kommen dürfen.
Standortförderung
Im Grossraum Zürich arbeiten immer mehr Leute in der Informations- und Kommunikationstechnologie. Laut einer Erhebung des Kantons waren es 2022 mehr als 70 000 Menschen. Der Hype um die künstliche Intelligenz schafft zusätzliche Stellen: Unternehmen wie Microsoft, Google und Meta forschen hier an ihren KI-Anwendungen, und auch das Unternehmen Open AI, das Chat GPT betreibt, hat jüngst ein Büro in Zürich eröffnet. «Europas Hauptstadt der künstlichen Intelligenz» textet dazu die Standortförderungsorganisation Greater Zurich Area.
In einem solchen Umfeld boomt auch die Jagd nach «Talenten», die an den Hochschulen mit öffentlichen Geldern ausgebildet werden und den Unternehmen das nötige Know-how liefern sollen. So hat sich etwa die britische Rekrutierungsfirma Trinnovo Group, die sich auf die Suche nach KI-Cracks spezialisiert hat, im vielzitierten «Zürcher KI-Ökosystem» angesiedelt. Ihr Geschäftsführer, Anthony Kelly, betont an einem der vielen Workshops des Festivals, dass ein guter Lohn allein ein Unternehmen für solche Leute noch lange nicht attraktiv mache. Die Firmenkultur müsse nicht nur «schön auf der Website beschrieben» sein, sondern gelebt werden. Die Talente wollten in Firmen mit «Visionen» arbeiten, die ihren Beschäftigten «Missionen» geben würden.
Auch Kelly scheint eine Mission zu haben. Er redet so schnell, dass er zwischendurch kaum zu Atem kommt und eine Pause braucht, um sich zu erholen. Seine eingeblendeten Power-Point-Folien lassen sich vom Publikum kaum überfliegen, schon sind sie wieder weg.
Kelly geht im Bereich KI von einer «Talentlandschaft» von rund 11 000 Personen in der Schweiz aus, von denen in den vergangenen zwölf Monaten 1600 ihre Arbeitsstelle gewechselt hätten. Achtzig Prozent dieser Talente seien Männer; mit Abstand am meisten Talente würden an der ETH Zürich «produziert», gefolgt von der EPF Lausanne. Auf dem dritten Platz, schon weit abgeschlagen, liegt die Universität Zürich, danach kommt die Universität Bern.
Ihre Leute würden es einfach mögen, in der Schweiz zu leben, sagt Google-Schweiz-Chefin Christine Antlanger-Winter an einem Podium während des Summits. Es geht um die Frage, wie das KI-Ökosystem Zürich noch «gedeihlicher» ausgestaltet werden könnte. Antlanger-Winter betont, dass man die guten Rahmenbedingungen hier nicht einfach als gegeben betrachten dürfe, sondern sich weiterentwickeln müsse. Für ETH-Professor Roland Siegwart, der auf dem Gebiet autonome Roboter forscht und an diesem Donnerstag ebenfalls auf dem Podium in Oerlikon sitzt, fehlt es derweil in der Schweiz an einer Kultur des «big dreaming» – der grossen Träume, wie es sie in den USA gebe.
Nachhaltigkeit war gestern
Es sind wahrhaftig grosse Träume, die die Technologiekonzerne träumen: Allein Open AI plant derzeit Investitionen von über tausend Milliarden US-Dollar in neue Rechenzentren. Dazu hat es dieses Jahr Abkommen mit den grossen Chipherstellern Nvidia und AMD sowie anderen grossen Techkonzernen abgeschlossen. Die neuen Rechenzentren sollen laut der «Financial Times» so viel Strom verbrauchen, wie zwanzig Atomkraftwerke von der Grösse des AKW Gösgen produzieren.
Sam Altman, der Chef von Open AI, träumt mit Milliardären wie Elon Musk oder Peter Thiel davon, dass künstliche Systeme die menschliche Intelligenz auf allen Gebieten übertrumpfen werden. «Open AI»-Financier Masayoshi Son, Besitzer der japanischen Softbank, behauptet in einem TV-Interview, dass schon in zehn Jahren künstliche Intelligenz 10 000-mal intelligenter sein könnte als der Mensch. Seine Mission sieht er in der «Evolution der Menschheit». Unterstützt werden die Techmilliardäre von der US-Regierung unter Donald Trump, der «das grösste Infrastrukturprojekt der US-Geschichte» fördern will, wo es nur geht. «Das Rennen gewinnen» lautet das Motto seines Aktionsplans.
Derweil wird in Texas bereits der Prototyp der neuen Rechenzentrumsgeneration gebaut. 6000 Arbeiter:innen sind laut «Wall Street Journal» am Bau beteiligt. Das Rechenzentrum wird viereinhalb Quadratkilometer einnehmen, das entspricht etwas mehr als der Fläche des Silsersees.
Möglich, dass das alles ein riesiger Investitionshype ist, der schon bald platzt. Denn sollten die eingesetzten Summen keinen Profit abwerfen, drohen Konkurse und Börsencrashs. Auch ist offen, woher all die Energie herkommen soll, um diese Rechenzentren zu betreiben.
Klar ist, die Techkonzerne haben sich inzwischen still und leise von ihren grossen Versprechungen in Sachen Nachhaltigkeit verabschiedet, wie der Forscher Philipp Wiesner von der Technischen Universität Berlin an einer Veranstaltung mit dem Titel «Umwelt und KI» am «AI+X Summit» erzählt – als eine der wenigen kritischen Stimmen. Es ist der «freie Markt», der sich austobt; die Macht der Konzerne bestimmt, während die staatliche Regulierung gar nicht mehr mitkommt – wenn sie denn überhaupt erwogen wird (vgl. «Die Politik hinkt hinterher» im Anschluss an diesen Text).
KI als Rationalisierungsmaschine
Auch in Zürich wird der Hype gelebt, wenn auch gutschweizerisch im Kleinen. An einem Stand verspricht ein Start-up-Unternehmen Firmen mit dem Einsatz von selbstentwickelten KI-Agenten fünfzig Prozent Arbeitsersparnis. Ein anderes will mit der KI-Auswertung von Geodaten die Suche nach Bodenschätzen erleichtern und Versicherungen helfen, innert kürzester Zeit Schadensanalysen nach einer Naturkatastrophe zu machen, während andere wiederum mit Robotern die Medizin im Operationsraum revolutionieren wollen.
Derweil erzählt die Vertreterin eines Beratungsunternehmens an einem Workshop, wie sie die Stadt Basel dabei unterstütze, künstliche Intelligenz für deren notorisch unterbesetzte Personalabteilung einzuführen. Fragen der städtischen Angestellten ans HR beantwortet jetzt ein Chatbot. Jemand überprüft die Antworten noch, bevor sie verschickt werden. Erhebungen haben inzwischen ergeben, dass diese Überprüfung unsorgfältig gehandhabt wird, da die Arbeit langweilig ist. Wer will schon als Anhängsel der KI arbeiten?
Und so steht man schliesslich an einer Bar an diesem KI-Festival, um sich angesichts des Gewusels etwas auszuruhen. Und während man über Sinn und Unsinn all der Einsatzmöglichkeiten nachdenkt, zapft eine Roboterhand ein Glas alkoholfreies Bier und stellt es ganz sachte auf den Tresen.
Staatliche Regulierung: Die Politik hinkt hinterher
Eigentlich ist es klar: Künstliche Intelligenz muss staatlich reguliert werden. Nur schon, um Fragen der Rechte an den Daten zu klären, die von den KI-Systemen abgezapft und verwendet werden. Aber auch, um zum Beispiel die Bevölkerung vor Desinformationskampagnen und Falschinformationen zu schützen, die mit KI-generierten Texten, Bildern und Videos gemacht werden können. Zudem stellt sich die Frage, wie weit die Gesellschaft bereit ist, den immer grösseren Energieverbrauch von KI-Systemen hinzunehmen. Und ganz generell ist zu klären, ob man es wenigen Techkonzernen überlassen will, die Zukunft so zu strukturieren, wie sie wollen, oder ob nicht die Gesellschaft als Ganzes zuerst definieren soll, wohin die Reise geht und wie die Rechte der Beschäftigten und der Konsument:innen zu schützen sind, die es mit KI-Systemen zu tun bekommen.
Die ETH hat denn auch am Tag nach dem «AI+X Summit» eine zweitägige Konferenz zu «AI Policy» organisiert, an der solche Fragen diskutiert werden sollten, an der aber auch die grossen Techkonzerne wie Palantir, Microsoft oder Meta prominent vertreten waren. Keynote-Speaker Dex Hunter-Torricke, der jahrelang CEOs grosser Techkonzerne beraten und offenbar inzwischen etwas Distanz gewonnen hat, sprach dabei «von der grössten Disruption in der Menschheitsgeschichte». Man müsse sich auf eine radikal andere Zukunft gefasst machen. Hunter-Torricke warnte vor den mannigfaltigen Missbrauchsmöglichkeiten durch die KI. Es gebe Hoffnung, dass die Technologie zum Nutzen aller eingesetzt werden könnte, nur müsse die Gesellschaft als Ganzes einbezogen werden. Man dürfe dabei auch nicht die wirklich grossen Herausforderungen der Menschheit weiter verdrängen, wie etwa die Tatsache, dass immer mehr Menschen auf der Flucht seien oder die Erderwärmung ungebremst zunehme.
Allen Warnsignalen zum Trotz hat die Politik sich in Sachen KI bisher eher zurückgehalten. Der Bundesrat etwa arbeitet derzeit eine Vernehmlassungsvorlage aus, in der es unter anderem um Transparenz, Datenschutz, Nichtdiskriminierung und Aufsicht gehen soll. Die EU kennt zwar bereits ein KI-Gesetz; dieses ist jedoch so ausgestaltet, dass es den grossen Techkonzernen viele Schlupflöcher lässt. Die Uno hat die Plattform «AI for good» geschaffen, auf der Regulierungen und Standards diskutiert werden und in deren Rahmen sich Staaten und Organisationen zu Konferenzen treffen. Der Europarat schliesslich verabschiedete vor einem Jahr eine KI-Konvention, die die Demokratie und die Menschenrechte bei der Nutzung von KI schützen will. Allerdings ist die Konvention sehr allgemein gehalten. Es obliegt den einzelnen Staaten, sie zu konkretisieren.