Kost und Logis: Auch Bäume sind Service public

Nr. 46 –

Bettina Dyttrich sieht die Romandie als Vorbild

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Beim Bahnhof von La Chaux-de-Fonds steht eine junge Eiche. Rundherum wachsen Büsche, junge Bäume, ein paar wenige ältere. Eine Gedenktafel erinnert an das verheerende Gewitter vom 24. Juli 2023. Es kam damals zu extremen Böen vom Typ Downburst, wahrscheinlich auch zu einem Tornado im Norden der Stadt. Der Sturm deckte Häuser ab, warf einen Kran um, eine Person wurde erschlagen, etwa vierzig verletzt. Das Unwetter knickte oder entwurzelte auch mehrere Tausend Bäume.

Die Tafel erinnert nicht nur ans Unwetter, sondern auch an Solidarität: Die Stadt Genf hat es La Chaux-de-Fonds ermöglicht, 400 junge Bäume zu pflanzen. Den ersten hier, am 15. April 2024.

Einen Baum pflanzen – es gibt wohl keine andere Tätigkeit, die so sehr für Hoffnung steht. Und genau dieses Pathos braucht es hin und wieder, um ein gutes Verhältnis zu öffentlichen Institutionen zu schaffen. Damit Menschen verstehen, dass Staat, Kanton und Gemeinde noch etwas anderes bedeuten können als nur Steuern, Bussen und Polizei. In der Romandie hat man das besser verstanden als in der Deutschschweiz.

Auch Bäume gehören zum Service public. Der Zugang zu Grünräumen ist genauso eine politische Frage wie der Zugang zu gutem Essen – von den Arbeitsbedingungen der Landarbeiter:innen bis in die Küche. Auch das scheint in der Westschweiz und im ganzen frankofonen Raum klarer zu sein. Ernährung und Umweltschutz sind viel stärker mit sozialen Fragen verknüpft; in jeder guten Buchhandlung zwischen Jura und Provence sieht man das sofort. Im deutschsprachigen Raum ist es hingegen weit verbreitet, Bio als Konsumphänomen verwöhnter Yuppies zu framen – letztlich als dekadenten Luxus. Die Rechten haben davon enorm profitiert.

Es macht Menschen glücklich, Kontakt zu Pflanzen und Zugang zu Grünräumen zu haben. Dazu gibt es mittlerweile viel Forschung, und die Ergebnisse sind so eindeutig, dass man sich fragt, warum sie nicht von jeder Stadtverwaltung, jedem Spital, jeder Schule in die Planung einbezogen werden. Die britische Psychiaterin und Gärtnerin Sue Stuart-Smith bietet in ihrem Buch «Vom Wachsen und Werden» einen beeindruckenden Überblick über die Forschung. Gärtnern oder auch nur schon ins Grüne schauen hilft Kranken, Gefangenen, Armutsbetroffenen, Sterbenden. Soziale Fragen kommen im Buch ausführlich vor, etwa wenn es um urbane Landwirtschaft in früheren Industriestädten geht. «Wenn die Industrie Sie ausspuckt», sagt ein arbeitsloser Schweisser in Kapstadt, «gibt es immer einen Platz für Sie in der Natur.»

Stellvertretend für viele steht ein junger Psychiatriepatient, der beim Gärtnern lernte, besser mit seinen Psychosen umzugehen – weil er sich mit den Pflanzen identifizierte: «Sie sind verletzlich, aber sie sind optimistisch und durchlaufen die Jahreszeiten. Sie bleiben hier und sind ziemlich erfolgreich.»

Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Sue Stuart-Smiths Buch «Vom Wachsen und Werden» ist bei Piper erschienen.