Georgien: Sieg der Angst

Nr. 44 –

Europäische Zukunft oder Annäherung an Russland: Weithin galt die Wahl in Georgien als Richtungsentscheid. Doch das ist eine unterkomplexe Darstellung.

Ein veritabler Propagandaerfolg: So lässt sich Viktor Orbáns Reise nach Tbilissi Anfang Woche zusammenfassen. Eigentlich weilte der ungarische Premier als aktueller EU-Vorsitzender in der georgischen Hauptstadt, gleichzeitig liess er keine Gelegenheit aus, seine europäischen Partner:innen zu brüskieren.

Nicht nur, indem er dem Georgischen Traum zum Wahlsieg gratulierte, als dieser noch gar nicht feststand – sondern auch, weil er sich eilfertig für dessen Narrativ einspannen liess. «Die Menschen gaben dem Frieden ihre Stimme, sie haben nicht zugelassen, dass Georgien eine zweite Ukraine wird», verkündete Orbán ganz im Sinne der Regierungspartei. Diese hatte ihren Wahlkampf auf ebendiesem Szenario aufgebaut, Plakate von friedlichen georgischen Städten neben zerbombten ukrainischen inklusive.

Dass gerade Orbán – jenes Staatsoberhaupt in der EU mit der grössten Nähe zu Wladimir Putin – dem umstrittenen Wahlsieger den Rücken stärkt, ist kein Zufall. Mit Bidsina Iwanischwili steht ein Oligarch hinter dem Georgischen Traum, dessen Bande mit Moskau seit jeher eng sind. Iwanischwili hat seine Milliarden mit Rohstoffgeschäften im Russland der Neunziger gemacht; und auch in den zwölf Jahren, die seine Partei in Georgien an der Macht ist, sorgte er dafür, dass die ökonomische Abhängigkeit vom grossen Nachbarn bestehen blieb.

Angesicht des Wahlergebnisses kann sich der Mann im Kreml zufrieden zurücklehnen. Putin unternimmt viel dafür, dass Georgien, Moldau und die Ukraine – Staaten, die man gemeinhin «postsowjetisch» nennt – sich nicht aus seinem Orbit lösen: In der Ukraine führt er zu diesem Zweck seit mehr als zehn Jahren Krieg, in Moldau und Georgien ist die Einflussnahme subtiler – Visaerleichterungen als Zuckerbrot, Sanktionsandrohungen und Einschüchterungsversuche als Peitsche, verbunden mit weitreichenden Desinformationskampagnen. Eine Rolle gespielt hat das auch jetzt in Georgien.

Dennoch ist das Bild weniger klar, als es die Opposition zeichnet. Wahr ist zwar, dass bei der Wahl am Samstag zahlreiche Unregelmässigkeiten festgestellt wurden; wahr ist aber auch, dass Iwanischwilis Erzählung von Krieg und Frieden gerade bei älteren Georgier:innen verfangen hat, die sich noch gut an den Kaukasuskrieg vom Sommer 2008 erinnern. Seither hält Moskau zwanzig Prozent des georgischen Territoriums besetzt. Der Sieg des Georgischen Traums ist deshalb auch ein Sieg der Angst vor der Rückkehr russischer Soldaten.

Verloren haben die Wahl am Samstag indes nicht nur die vier oppositionellen Wahllisten, sondern vor allem die junge Generation. Zwar gingen mehrere Zehntausend am Montag gegen die «gestohlene Wahl», wie die Opposition das Verdikt nannte, auf die Strasse; viel ausrichten dürften die Proteste aber ebenso wenig wie die Ankündigung der Wahlkommission, einen Teil der Stimmen neu auszählen zu lassen.

Was bei vielen Jungen bleiben wird, ist ein Gefühl der Enttäuschung – nicht nur vom Wahlergebnis, sondern auch von der EU, die die Beitrittsverhandlungen schon im Juni auf Eis gelegt hatte, was viele Georgier:innen als eine Strafe für die Versäumnisse ihrer Führung empfanden.

Wichtig ist nun aber auch eine andere Einsicht: dass der westliche Blick auf Georgien sträflich unterkomplex ist. Seit Ende des Kalten Krieges projizieren liberale Medien und Politiker:innen ein binäres Weltbild auf die Länder der ehemaligen Sowjetunion – proeuropäische Bewegung hier, prorussische Regierung dort. In Umfragen geben ein Grossteil der Georgier:innen zwar an, einen EU-Beitritt anzustreben; von grösserer Bedeutung sind für die meisten aber ökonomische Fragen. Und diese spielten im Wahlkampf der Opposition, die den Urnengang ebenfalls zum geopolitischen Richtungsentscheid stilisierte, kaum eine Rolle.