«Vierundsiebzig» : Ausformulierte Sprachlosigkeit
Ronya Othmann ergründet literarisch einen Genozid. Wie lässt sich in Worte fassen, was unbegreiflich schlimm ist?

Als am 3. August 2014 die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in den Sindschar einfällt, ist der Himmel unverschämt wolkenlos. Eine halbe Million Jesid:innen leben damals in der Region. Sie sind dem IS schutzlos überlassen.
Die IS-Kämpfer foltern und ermorden bis zu 10 000 Menschen. Sie vergewaltigen, verschleppen und versklaven 7000 Frauen und Kinder, ziehen brandschatzend durch die Gegend, zerstören Dörfer. Viele Menschen fliehen ins Gebirge und verdursten dort. So geschieht das 74. genozidale Massaker, das die Jesid:innen in ihrer Geschichte zählen.
2018 reist Ronya Othmann, Tochter eines jesidischen Kurden und einer Deutschen, zu Verwandten nach Kurdistan. Sie besucht die Camps, in denen die Überlebenden des Massakers untergebracht sind, wird zur Zeugin von dessen Trümmern. Nach ihrer Rückkehr beginnt sie, ihre Zeuginnenschaft literarisch zu verarbeiten. Mit «Vierundsiebzig», das dieses Jahr für den Deutschen Buchpreis nominiert war, setzt sie dem Genozid ein eindringliches Denkmal.
Rosenblüten, Märtyrerbilder
Schon Othmanns erster Roman, «Die Sommer» (2020), trug autobiografische Züge. In «Vierundsiebzig» ist die Erzählstimme – zumal sie laufend ihr eigenes Schreiben reflektiert – nicht mehr von der Autorin zu unterscheiden. Einzig die Gattungsbezeichnung «Roman» auf dem Cover hielte davon ab, die beiden Stimmen gleichzusetzen. Aber ist es einer?
Othmann dokumentiert in «Vierundsiebzig» reale Geschehnisse. Eine Jesidin in IS-Gefangenschaft, deren Baby schreit. Ein IS-Kämpfer nimmt es ihr weg und bringt es auf entsetzliche Weise um. Die Mutter verliert den Verstand – es gibt keinen Plot, der Geschichten wie diese in einen sinnhaften Zusammenhang bringen könnte.
Das brachte schon die Jury des Bachmann-Preises, wo sie 2019 aus einer frühen Version von «Vierundsiebzig» las, an ihre Grenzen. Sie stellte infrage, ob sich dieser Text literarisch überhaupt beurteilen lasse; zu grausam sei er, zu nahe an der Realität. Aber es ist gerade seine literarische Qualität, die das Buch erträglich macht. Die nüchtern-lyrische Prosa schafft eine Distanz zum Geschehen. Immer wieder schieben sich erzählerische Passagen zwischen die Versatzstücke des Textes: Tante Adar pflückt Rosenblüten im Azadî-Park; eine Fahrt auf der Schiffschaukel; Haare flattern im Wind.
Vielleicht liesse sich «Vierundsiebzig» am ehesten als ausufernde Materialsammlung mit romanhaften Zügen beschreiben. Othmann sammelt, was sie kann: Sie schaut sich die IS-Hinrichtungsvideos an, durchforstet Berichte, fotografiert Schautafeln in Museen, Denkmäler, Märtyrerbilder. Sie fotografiert, was am Autofenster vorbeizieht, als sie mit ihrem Vater von Erbil nach Mosul und von Bagdad in den Sindschar reist. Sie fotografiert die rot gemusterte Decke auf dem Hausdach ihrer Verwandten im Dorf, wo sie unter dem Sternenhimmel geschlafen hat. Sie führt unzählige Gespräche, legt Listen mit den Namen gefallener Kämpfer:innen an, bis sie den Überblick über ihr Material zu verlieren droht. Es ist diese Unfähigkeit, mit dem Dokumentieren, Sammeln, Schreiben aufzuhören, die den Text so eindringlich macht. «Als würde ich einen Gerichtsprozess vorbereiten», schreibt sie, «den ich hier abhalte, auf dem Papier.»
Mit Wendungen wie «ich schreibe», «ich notiere», «ich lese» macht Othmann ihre Zeuginnenschaft permanent zum Thema. Sie hadert: Denn was rechtfertigt ihr Schreiben über das unbegreiflich Schlimme, während für sie der Alltag weitergeht? Immer wieder will sie das «ich» aus dem Text streichen, realisiert, dass sie zu fest damit verstrickt ist, trennt seine Nähte auf und setzt neu an. Eine einzige lange Suchbewegung. Der Text gerät ihr viel zu lang – und hätte doch kaum kürzer ausfallen können.
«Die Frage nach dem Warum ist keine Frage», heisst es an einer Stelle: «Sie ist ausformulierte Sprachlosigkeit.» Im wucherhaften Zuviel an Worten kommt diese Sprachlosigkeit zum Ausdruck.
Die Landschaft als Protokoll
«als ob wir von / nichts wüssten, als ob wir nicht wüssten, ist die landschaft trotz / alledem ein protokoll. und der himmel eine lüge, / unversehrt blau», heisst es in Othmanns Lyrikband «das verbrechen» (2021). Auch in «Vierundsiebzig» taucht die Landschaft als stumme Zeugin des Verbrechens leitmotivisch auf. Othmann schafft poetische Miniaturen, grafitgraue Berge, das staubige Licht; kurze Verschnaufpausen beim Lesen. Aber die Bilder sind doppelbödig: «Mein Vater geht durch eine zweifache Landschaft. Mein Vater sagt: Wir haben Walnussbäume gehabt. Er meint damit den Garten meiner Grosseltern. Ich denke: Mein Vater sieht in der einen Landschaft die Abwesenheit der anderen.» Wenn nicht einmal die Landschaft sich auf eine Weise beschreiben lässt, die wahr ist, wie sollen Worte dann begreifbar machen können, was in ihr geschah?
Im Oktober 2022 reist Othmann mit ihrem Vater in den kriegszerfurchten Sindschar. Den Milizen an den Checkpoints muss sie immer wieder beteuern, dass sie einen Roman schreibe, kein politisches Buch: «Dokumentarisch, sage ich. Ich schreibe auf, was ich gesehen und gehört habe.»
Um zu beschreiben, was sie sieht, muss sie aber Worte verwenden wie «Schützengraben», «Sprengfallen», «Massengrab». Sobald ihr Reisebericht einen erzählerischen Zug entwickelt, bricht diese kriegerische Sprache ihre Sätze, die zu abgehackten Reihungen verkommen. «Immer dieselben Passagen, angefangene Sätze, die irgendwo abbrechen, im Nichts zerfransen. Als wäre mein Text selbst ein Trümmerfeld.»
Der Text bleibt fragmentarisch, trümmerhaft. Es ist wiederum ein Landschaftsbild, das dennoch eine Ordnung schafft: Das Umschlagfoto des Buchs, das der deutsche Geograf Eugen Wirth 1953 auf einer Reise durch den Sindschar schoss, taucht mehrfach vergrössert auch zwischen den Seiten auf und gliedert das Buch in drei Teile. Im Zentrum steht so eine knapp zwanzig Seiten lange Passage im letzten Drittel des 500-seitigen Buchs, in der Othmann die Verkündung zweier Gerichtsurteile nacherzählt: 2021 wurden die deutsche IS-Anhängerin Jennifer W. und ihr syrischer Ehemann in München verurteilt, weil sie in Syrien ein fünfjähriges jesidisches Mädchen als Sklavin gehalten und in der brennenden Nachmittagssonne im Hof angebunden hatten. Das Kind, Reda B., verdurstete qualvoll.
Ein Ende gibt es nicht
In diesem Prozess wurde weltweit erstmals der Völkermord an den Jesid:innen als Tatbestand mitverhandelt. Für die jesidische Gemeinschaft war das historisch, fast kathartisch liest sich die Passage. Aber Othmann mahnt: Prozesse wie dieser, die Anerkennung des Genozids als solcher – all das bedeutet kein Ende der Geschichte, weil mit dem Ende das Vergessen beginnt. Zumal es hier keine Geschichte gibt, schreibt sie, «nur Knochen». Aus diesem Grund endet auch «Vierundsiebzig» nicht, es läuft einfach aus: mit der Beschreibung einer deutschen Provinzlandschaft, die am Fenster des Zuges vorbeizieht, in dem Othmann sitzt, nachdem sie aus dem Sindschar zurückgekehrt ist.
Vielleicht ist das der Grund, dass Othmann ihr Buch als Roman bezeichnet. Als Journalistin äussert sie sich pointiert zum Geschehen im Nahen Osten: Noch immer gelten 2500 jesidische Frauen und Kinder als vermisst, und niemand sucht sie. Obschon der IS militärisch besiegt ist, ist die Ideologie noch da. Der Genozid war nur möglich, weil die muslimischen Bewohner:innen des Sindschar ihre jesidischen Nachbar:innen verrieten.
Auch in «Vierundsiebzig» dringen diese Haltungen durch. Dennoch lässt Othmann Ambivalenzen stehen, wie es nur Literatur auf diese Weise kann. Und wo angesichts der Grausamkeit die Sprache versagt, sprechen Bilder.
