Grundrechte: Auf ewig ein «Gefährder»
Was in der Schweiz mit dem Polizeigesetz PMT eingeführt werden soll, ist in Frankreich zum Teil bereits Realität. Im Zuge der Notstandsgesetze landeten selbst KlimaaktivistInnen im Hausarrest. Zwei Beispiele.
25 Minuten. So viel Verspätung hatte Kamel Daoudi auf dem Nachhauseweg an einem Freitagabend vergangenen Herbst. 25 Minuten, die ihn teuer zu stehen kamen. Denn der 46-Jährige steht unter Hausarrest. Zwischen 21 Uhr abends und 7 Uhr morgens darf er seine Wohnung in der französischen Kleinstadt Aurillac nicht verlassen. Ein Jahr Gefängnis, so lautete später das Urteil für den Verstoss gegen die Auflagen. Zwar wurde es in der Revision gemildert – doch bis dahin hatte er schon vier Monate hinter Gittern verbracht. Wieder einmal.
Am Umgang mit Daoudi zeigt sich Frankreichs zunehmend repressive Sicherheitspolitik. Er selbst weiss um seine Rolle, will eine warnende Stimme sein. Sein Privatleben ist längst ein Politikum. «Ich bin unfreiwillig zu einer Ikone des Kampfes für individuelle Freiheitsrechte geworden – was man nicht gerade erwarten würde von einer Person, die für angebliche terroristische Aktivitäten verurteilt wurde.»
Kamel Daoudi gilt als der am längsten in Hausarrest gehaltene «Gefährder» des Landes. «Die Wohnung, in der ich lebe, wird vom Innenministerium verwaltet und überwacht. Ich bin sicher, dass zusätzlich die Geolokalisierung meines Telefons verwendet wird, um die Einhaltung meiner Auflagen sicherzustellen. Und natürlich gibt es Menschen, die mich gezielt bei der Polizei denunzieren wollen», erzählt Daoudi, der nur per verschlüsseltem Messengerdienst mit Journalistinnen und Anwälten kommuniziert. Zu gross ist sein Misstrauen gegenüber dem französischen Staat, in dessen Augen er seit 2005 eine «terroristische Bedrohung» darstellt.
Im juristischen Niemandsland
Daoudi, der im Alter von fünf Jahren aus Algerien nach Frankreich kam und in einem bürgerlichen Pariser Bezirk aufwuchs, wandte sich nach beruflichen Misserfolgen und einer gescheiterten Ehe als junger Mann dem Islam zu. Er reiste in ein Trainingscamp in Afghanistan. Nach seiner Rückkehr wurde er festgenommen und wegen «Zugehörigkeit zur islamistischen Terrororganisation al-Qaida» und der «Planung eines terroristischen Anschlags» verurteilt. Dass er Kontakte zu Mitgliedern der Miliz hatte, konnte in der Tat nachgewiesen werden; konkrete Anschlagspläne bestreitet er bis heute.
Nach drei Jahren Haft wurde Daoudi 2008 zwar entlassen. Auf Beschluss des Innenministeriums musste er allerdings seither mehrmals umziehen, von einer Ecke des Landes in eine andere, getrennt von seiner Frau und den drei Kindern – und mit der Auflage, drei- bis viermal täglich in einem Polizeikommissariat zu erscheinen. Über 14 000-mal bislang, mit dem immer gleichen Prozedere. Name: Daoudi. Vorname: Kamel. Geboren am 3. August 1974 in Sedrata, Algerien.
Noch immer wird Daoudi von den Behörden als potenzieller Gefährder eingestuft. Seit der Haftentlassung befindet er sich im juristischen «Niemandsland», wie er es nennt. Die Aufhebung des Hausarrests konnte er bislang nicht erwirken – dabei wird er mittlerweile sogar von Amnesty International und anderen Menschenrechtsorganisationen unterstützt.
Immer schärfere Massnahmen
«Der Fall Daoudi ist ein Beispiel dafür, wie sich die Rechtslage in Frankreich in den letzten Jahren sukzessive verschlechtert hat. Statt juristischen Verfahren obliegt es dem Innenministerium und der Polizei, Entscheidungen zu treffen. Damit gibt es immer weniger fundierte Ermittlungsverfahren», sagt Anne-Sophie Simpere von der französischen Amnesty-Sektion. Schon 2016 warnte die NGO in einem Bericht vor der Verlängerung des Ausnahmezustands, der 2015 nach den Anschlägen auf die Satirezeitung «Charlie Hebdo» und das Konzertlokal Bataclan verhängt worden war. Die Notstandsmassnahmen bezeichnet die Organisation als «zu weit gefasst», da sie eine zu ausgedehnte Anwendung zuliessen.
Tatsächlich erhielten die Sicherheitsbehörden grössere Freiheiten, ohne sich an langwierige juristische Prozeduren halten zu müssen: Hausdurchsuchungen, die Verhängung von Hausarrest oder die Schliessung religiöser Stätten wurden erleichtert. Doch auch in den Folgejahren nahm die Regierung die Massnahmen nicht zurück; stattdessen wurden sie noch verstärkt und in Gesetzen festgeschrieben. «Dadurch schränkte man unzählige Grundrechte – etwa das Recht auf Privatleben, Meinungsäusserung oder das Recht auf Arbeit – erheblich ein», sagt Simpere. Sie spricht von «institutionalisierten Diskriminierungen». In den Jahren 2017, 2019 und 2020 traten Gesetze in Kraft, die Frankreichs innere Sicherheit stärken sollten, deren «Kollateralschäden» die individuellen Freiheiten aber stark einschränken. Und das nicht nur in Kreisen angeblicher islamistischer Gefährder.
Zum Ziel von Überwachung und Repression wurden seither auch Dutzende Öko- und KlimaaktivistInnen sowie Linksradikale. Die Behörden durchsuchten ihre Wohnungen und Häuser, verboten ihnen teilweise, ihre Heimatorte zu verlassen, und belegten sie mit Demonstrationsverboten. Insbesondere die Protestierenden im kleinen Örtchen Bure in Ostfrankreich gerieten in ihr Visier, weil sie gegen das dort geplante Endlager für atomare Abfälle kämpfen.
Unter ihnen ist auch Joël Domenjoud, der 2015 im Zuge der Notstandsgesetze für siebzehn Tage unter Hausarrest gestellt wurde, just während der Vorbereitungen zu Protesten gegen den Weltklimagipfel. Gegenüber der Berliner «taz» sagte er damals: «Mir haben Polizisten eine Anordnung überreicht, die direkt aus dem Innenministerium stammt. Sie wurde von keiner Polizei und keinem Staatsanwalt unterzeichnet und hat nie einen Richter gesehen. (…) Ich bin nicht vorbestraft und stand noch nie vor Gericht. Was mir vorgehalten wird, ist, dass ich Proteste geplant habe und davon auszugehen sei, dass ich die öffentliche Sicherheit und Ordnung störe.»
Domenjoud ist einer von vielen, dessen Grundrechte ohne richterlichen Beschluss eingeschränkt wurden. Nach Ende des Hausarrests erhielt er für Bure ein Rayonverbot, und auch der Kontakt zu einigen MitaktivistInnen wurde ihm untersagt. Bei Verstössen droht Gefängnis. Dass diese Praktiken unter dem sozialistischen Präsidenten François Hollande eingeführt wurden und seither zum Alltag gehören, sendet in den Augen von Amnesty International ein fatales Signal. Neben den konkreten Auswirkungen für die Menschen, die unter der Überwachung leiden, sieht Anne-Sophie Simpere noch eine andere Konsequenz: «Auch unsere Arbeit bei Amnesty wird erschwert: Wir verlieren an Glaubwürdigkeit, wenn wir Kritik an der Lage in anderen Ländern üben wollen, sich aber gleichzeitig die Situation der Menschenrechte in Frankreich verschlechtert.»
Risiko einer Radikalisierung
Frankreich ist bei weitem nicht das einzige Land mit einer solchen Entwicklung; auch Staaten wie Kanada oder Australien werden von Amnesty aufmerksam beobachtet. In vielen Ländern akzeptierten Menschen die Politik ihrer Regierungen aus Angst vor neuen Anschlägen oder weil sie – angeheizt etwa durch die Stigmatisierung muslimischer MitbürgerInnen – um die «kulturelle Identität» ihres Landes fürchten.
Mitte Juni wird auch in der Schweiz über eine ähnliche Verschärfung abgestimmt. Mit dem Polizeigesetz (PMT) sollen die Behörden weitreichende Kompetenzen im Umgang mit «Gefährdern» erhalten. Das Massnahmenpaket reicht von der Gesprächspflicht bis zum Hausarrest – wobei dieser im Gegensatz zu Frankreich nicht bloss nachts, sondern rund um die Uhr gelten würde.
Der Blick ins Nachbarland sollte den SchweizerInnen eine Warnung sein. Zwar bezieht sich die Französische Republik heute noch immer auf die universellen Menschenrechte, die Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Doch dafür müsste sich auch die Sicherheitspolitik an diesen freiheitlichen Idealen ausrichten. Andernfalls gibt die Politik jenen Rückenwind, die den Rechtsstaat mit Füssen treten. Nicht zuletzt geht mit Mitteln wie dem Hausarrest das Risiko einher, dass sich als gefährlich eingestufte AktivistInnen als Reaktion noch weiter radikalisieren. Genau das Gegenteil von dem also, was man erreichen will.
Kamel Daoudi hat in den letzten Jahren über dreissig Staaten gebeten, ihm und seiner Familie Asyl zu gewähren. Bislang ohne Erfolg. Dabei empfindet er Frankreich trotz allem als seine Heimat. «Ich habe nichts gegen dieses Land», sagt er. «Meine Frau habe ich in Frankreich getroffen, meine Kinder gehen hier zur Schule. Wir wünschen uns nur, in Ruhe gelassen zu werden und ein normales Leben führen zu können.»