Nach der Katastrophe: Zurück in Fukushima

Nr. 23 –

20 000 Einwohner:innen hatte das Städtchen Namie vor dem Super-GAU. Heute sind es nur noch 2000 – darunter das Ehepaar Eishige und Nobuko Konno. Das habe auch mit dem «Schweigegeld» der Regierung zu tun, sagen sie.

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Eishige und Nobuko Konno vor ihrem Haus in Namie
In den ersten Monaten nach der Katastrophe zogen sie sechsmal um: Eishige und Nobuko Konno vor ihrem Haus in Namie in der Nähe des AKW Fukushima Daiichi.

Die Uhr an der Feuerwehrstation Futaba zeigt 14.48 Uhr. Die Lamellen des geschlossenen Garagentors sind nach oben gebogen. Nachdem die Erde gebebt hatte, wollten die Feuerwehrleute ausrücken, um Menschen zu helfen. Doch die Elektrizität war tot, das Tor blieb zu. Also drückten sie es von Hand hoch. Für das Feuerwehrauto reichte die Lücke nicht, sie eilten zu Fuss los. Einige von ihnen kehrten nicht mehr zurück, sie ertranken in der Tsunamiwelle. Kurz darauf mussten alle Bewohner:innen Futabas vor der radioaktiven Strahlung fliehen. Seit über vierzehn Jahren steht die Uhr an der Feuerwehrstation still.

Am Freitag, 11. März 2011, um 14.46 Uhr bebte die Erde an der Ostküste Japans so stark wie nie zuvor: Das Tōhoku-Erdbeben zeigte eine Magnitude von 8,9 auf der Richterskala an und hatte sein Epizentrum nur etwa hundert Kilometer von der Küste entfernt im Meer. Der Tsunami, den es auslöste, tötete über 22 000 Menschen, zerstörte rund 400 000 Gebäude, überflutete über 500 Quadratkilometer Land – und führte zur nuklearen Katastrophe, für die wir die japanische Präfektur Fukushima kennen. Fast 165 000 Personen verloren innert Tagen ihre Heimat.

Heute, vierzehn Jahre nach der Dreifachkatastrophe, setzt Japan wieder auf Atomenergie – während fast 26 000 Menschen noch immer nicht zurückkehren dürfen, weil ihre Heimat eine Sperrzone ist.

Kompensationsgeld statt Rückkehr

Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi steht an der Küste der Präfektur Fukushima, auf der Grenze zwischen den Gemeinden Futaba und Ōkuma. Nach der Katastrophe hatte der Wind eine radioaktive Wolke ins Landesinnere getragen und die Region grossflächig verseucht. In den vergangenen Jahren haben Arbeiter:innen die oberste Schicht des Bodens abgetragen, er lagert nun in Säcken, die millionenfach in der Gegend rumstehen. Was damit geschehen soll, ist unklar. Ist ein Wohngebiet dekontaminiert, dürfen die Bewohner:innen zurückkehren.

Als Letztes wurden im August 2022 kleine Teile Futabas geöffnet, etwa hundert Personen leben wieder hier, von fast 7000 vor der Katastrophe. Der Grossteil der Gemeinde ist noch immer unbewohnbar, die bewaldeten Hügel werden es wohl auch bleiben.

Wie die Zugstrecke sind auch einzelne Strassen durch das Sperrgebiet offen, sie führen zu einem Friedhof. Fährt man darauf, piepst der Geigerzähler wie verrückt. Links und rechts der Strasse überwuchern Pflanzen Häuser. Häuser ohne Dach, Häuser mit schiefen Wänden. Der Stromversorger und Besitzer des AKW Fukushima Daiichi, die Tokyo Electric Power Company (Tepco), zahlte den Bewohner:innen den Bau eines neuen Hauses ausserhalb der verseuchten Region. In den vergangenen vierzehn Jahren haben sich viele ihr Leben woanders eingerichtet, von Okinawa bis Hokkaido über ganz Japan verstreut. Sie haben einen Job gesucht und Kinder eingeschult. Wollten sie zurückkommen, müssten sie erneut ein Leben verlassen.

Nobuko und Eishige Konno sind zurückgekommen. Sie sind über 75 Jahre alt und leben in Namie, der Nachbarstadt Futabas. Eishige Konno lädt ins Wohnzimmer ein, er zeigt Fotos der Familie in Schwarz-Weiss, Nobuko stellt Grüntee und Birnenschnitze auf den kniehohen Tisch. Er spricht laut und viel, sie spricht leise und detailliert.

Nobuko Konno erzählt, wie sie mit der Schwiegertochter und der Schwiegermutter auf einen Hügel gefahren war, um vor dem Tsunami zu fliehen. Als sie nach unten schaute, sah sie den Ozean, da, wo Freund:innen und Verwandte wohnten, und da, wo sie ihr Gemüse anpflanzte. Die Konnos wohnen fast drei Kilometer von der Küste entfernt, die Welle gelangte bis zu ihrem Haus.

Eishige Konno erzählt, wie er als Mitglied des Gemeinderats von Namie im vierten Stock des Rathauses sass, als dieses zu schwanken begann. Der Rat tagte bis Mitternacht. Erst am Morgen danach drangen Informationen durch, dass es im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi sieben Kilometer entfernt ernst wurde – wie ernst, konnte noch niemand einschätzen. Trotzdem wurden die Menschen in Sicherheit geschickt. Später ordnete die Regierung Japans offiziell die Evakuierung innerhalb eines Zwanzigkilometerradius an.

In den ersten Monaten zogen die Konnos sechsmal um. Schlimmer als die Angst vor der Radioaktivität sei die Angst der anderen Menschen gewesen. Verschiedene Städte wollten keine Personen aufnehmen, weil sie sich vor einer Verstrahlung fürchteten. Leute wie die Konnos wurden gemieden, Kinder gemobbt, viele zerkratzten das eigene Autokennzeichen, damit man nicht sah, woher sie kamen. Noch heute sprechen wenige über die Suizide, besonders junge Menschen fühlten sich beschmutzt, sahen keine Zukunft.

2017, sechs Jahre nach der Katastrophe, war die Stadt Namie wieder zugänglich. Die Konnos waren bei den Ersten, die zurückkehrten. Sie erzählen von der kompletten Dunkelheit nachts, von der Stille. «Wir hatten Glück», sagt Nobuko Konno, «unser Haus war nicht von verwilderten Schweinen und Kühen bewohnt.»

Eishige Konno ist überzeugt, dass Namie mindestens ein Jahr früher hätte öffnen können. «Doch einige Leute zögerten die Wiedereröffnung hinaus – vor allem diejenigen, die sowieso nicht zurückkehren wollten –, denn so erhielten sie noch ein Jahr länger die Zahlungen von Tepco.»

Tepco und die Regierung Japans zahlen nicht nur den Rückbau des alten Hauses und den Bau eines neuen, sondern auch die Rechnungen für Gesundheitschecks, Strassengebühren und Zugtickets sowie Kompensationsgeld. Damit bauen sich viele ein neues Leben auf. Es gibt Stimmen, die kritisieren, dass Tepco und der Staat zu viel Geld geben; dass mehr Leute heimkehren würden, hätten sie nicht so viel erhalten. Das Geld wird auch Schweigegeld genannt, denn niemand spricht gerne darüber. Manch einer spürt die Eifersucht im Rest Japans.

Heute leben in Namie wieder über 2000 Menschen, 2011 waren es rund 20 000. An der Hauptstrasse steht ein neues Einkaufszentrum, modern, hell, ein Revitalisierungsprojekt. Es dient als Treffpunkt, hier verkauft Nobuko Konno ihr Gemüse, nachdem es kontrolliert und als frei von Radioaktivität deklariert wurde. Am Bahnhof entsteht das Fukushima Institute for Research, Education and Innovation für viele Millionen Franken, es soll Forschende aus aller Welt anziehen. Eishige Konno glaubt nicht daran.

Das AKW sieht fast aus wie damals

Hören wir Fukushima, denken wir Tschernobyl. Die beiden Katastrophen werden auf der International Nuclear and Radiological Event Scale als einzige auf der schlimmsten Stufe, Level 7, als «major accident» bewertet. Und doch sind sie nur bedingt miteinander vergleichbar.

Die in Fukushima freigesetzte Radioaktivität beträgt je nach Quelle zwischen einem Zehntel und einem Fünftel derjenigen von Tschernobyl. In Fukushima verbreitete sie sich viel weniger weit als in Tschernobyl und grösstenteils übers Meer. Menschen konnten rechtzeitig evakuiert werden. Und gemäss japanischen Behörden hat kein Arbeiter den Strahlengrenzwert für Notfälle erreicht, während sogenannte Liquidatoren in Tschernobyl eine viel höhere Strahlung abbekommen haben.

Heute sehen die Reaktorblöcke von Fukushima Daiichi fast so aus wie kurz nach der Katastrophe: kaputt und nur zum Teil bedeckt. Auf öffentlichen Touren kann man sie besichtigen, auf der Besucher:innenplattform neben den zerstörten Reaktoren misst der Geigerzähler fünfzig Mikrosievert pro Stunde. Würde man eine Stunde lang dort stehen, bekäme man etwa die Dosis eines Transatlantikflugs ab.

Erst im November 2024 ist es den Arbeitern gelungen, mit einem Roboter 0,7 Gramm radioaktiver Trümmer zur Analyse aus einem Reaktor zu holen. Insgesamt rechnet man mit 880 Tonnen dieser Mischung aus geschmolzenen Brennelementen und Reaktorteilen. Der Rückbau dauert noch Jahrzehnte.

Die Wellen, die an die Küste Fukushimas schlagen, wären gut zum Surfen. Hinter den Wellenbrechern und dem neuen Schutzwall liegt flaches Land. Hier und da einzelne alte Baumskelette, die neu gepflanzten Bäumchen in Reih und Glied sind noch winzig. Vor der Dreifachkatastrophe gab es auf diesem Küstenstreifen Fischerdörfer, Felder und Wälder. Jede:r zehnte Bewohner:in ist im Tsunami gestorben.

Tomoko Kobayashi führt in Odaka ein Ryokan, ein traditionelles japanisches Gästehaus. 2005 hatte sie es von ihren Eltern übernommen und 2011 – kurz vor der Katastrophe – gerade alle Schulden abbezahlt. Die Siebzigjährige ist in Odaka aufgewachsen. Als sie zur Schule ging, begann der Bau des AKW sechzehn Kilometer vom Dorf entfernt. Ihr Lehrer sagte damals, nukleare Energie sei gefährlich. Daran erinnerte sie sich, als sie aus ihrem Zuhause fliehen musste.

Das Ryokan hat Erdbeben und Tsunami standgehalten, seit 2016 lebt sie wieder hier und empfängt Gäste. «Ich habe so viel finanzielle Entschädigung erhalten», sagt sie, «doch ich habe noch viel mehr verloren.» Bekannte starben, die Gemeinschaft gibt es nicht mehr. Viele Familien in Odaka stammten von den Samurai ab, dem japanischen Schwertadel, die Gemeinde pflegte Traditionen und feierte aufwendige Feste. Zurückgekehrt sind vor allem Alte.

Früher lebten in Odaka etwa 10 000 Personen, heute sind es noch ein Drittel. Viele Parzellen sind leer, die Häuser zurückgebaut oder überwuchert. Zwar ziehen auch einzelne junge Leute hierher, ein Paar aus der Region, das lange in Tokio gelebt hat und nun in seinem Haus Sake aus lokalem Reis braut, oder eine Bestsellerautorin, eine Auswärtige zwar, die hier ein Café eröffnet hat. Sie werden angezogen von der Ruhe, die es in Tokio nicht gibt, und von der Möglichkeit, etwas aufzubauen – auch mit Geld von Tepco und der Regierung.

Für Tomoko Kobayashi reicht das nicht. «Die Kosten für den Aufbau von Geschäften sind gedeckt, nicht aber die Kosten für den Unterhalt», sagt sie. Damit die Gemeinde funktionieren kann, braucht es Ärztinnen und Lebensmittelproduzenten und Dienstleistende. Wenn vor allem Alte zurückkommen, wird Odaka ein zweites Mal aussterben.

Japan setzt wieder auf Atomenergie

Nach dem 11. März 2011 wurden alle AKWs in Japan vorübergehend heruntergefahren. Die Millionenstadt Tokio, für die Tepco in Fukushima Strom produzierte, kommt heute praktisch ohne Atomenergie aus, dafür stammt fast alles aus fossilen Quellen wie Kohle, Öl und Gas. 2023 waren über achtzig Prozent der Energie Japans nicht erneuerbar und der Grossteil davon importiert.

Im Dezember 2024 gab das japanische Ministerium für Wirtschaft, Handel und Industrie den neuen Energieplan bis 2040 bekannt. Erneuerbare Energien, die heute noch kaum eine Rolle spielen, sollen bis zu fünfzig Prozent ausmachen, und auch die Atomenergie wird ausgebaut: Bald sollen zwanzig Prozent nuklear sein – fast so viel wie vor der Katastrophe in Fukushima. In den nächsten Jahren sollen rund dreissig Reaktoren wieder gestartet oder neu gebaut werden.

Fukushima ist die einzige Präfektur Japans, die keine Atomkraft mehr will.

Diese Recherche wurde vom Internationalen Journalisten-Programm (IJP) ermöglicht.