Japan: Sayonara, Atomkraft?

Nr. 14 –

Trotz der Katastrophe von 2011 sollen im Sommer die japanischen Atomkraftwerke wieder ans Netz gehen. Unterwegs mit einer Karawane durch Japan, die das verhindern möchte.

«Das Problem geht uns alle an»: Tadashi Gunji mit dem Stirnband «Gewerkschaft aller Hafenarbeiter» führt eine Protestdemonstration in Tokio gegen die Atomkraft an.

Zwanzig Gewerkschafter in einer Karawane von Fukushima nach Tokio. Zwischen dem Atomkraftwerk und der Zentrale des Betreibers Tepco liegen 256 Kilometer und das Vergessen. Deswegen nehmen die jungen Männer an der Tour teil. Unter Anleitung von Älteren werden sie eine Woche lang gegen Atomkraft demonstrieren, Reden halten, Unterschriften sammeln – und den Zusammenhalt der Gewerkschaften stärken. Wer gemeinsam durch verstrahltes Gebiet gelaufen ist, Evakuierten und Dekontaminierungsarbeitern zugehört hat und eine Woche lang jeden Abend gemeinsam trinkt, wird auch in Zukunft zusammenhalten, gegen Atomkraft und schlechte Arbeitsbedingungen.

Es sind Menschen wie der Klarinettist und Lastwagenfahrer Takaaki Hyuga (37), der in Saitama nördlich von Tokio wohnt. Wie Ken Umemura (32) aus Kobe im Südwesten Japans. Oder wie Tadashi Gunji aus Fukushima (28), Vater eines Zweijährigen. Sie sollen die Protestbewegung in die junge Generation bringen. Am Ende der Tour wird einer von ihnen im Tokioter Hibiya-Park vor über 5000 Menschen sprechen.

Vor der Sperrzone

Die Reise beginnt auf einer Konferenz gegen Atomkraft, achtzig Kilometer östlich des havarierten AKWs. Dort sagt der Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe, wer noch glaube, Atomkraft sei nötig und sicher, sei reingefallen. Lieder gegen Atomkraft werden angestimmt, gleichgesinnte RentnerInnen mit Fahnen hocken auf durchgesessenen Samtklappstühlen.

Dann treten die jungen Männer von der Karawane auf die Bühne. Ihre Uniformen sind neongelbe Westen, auf denen «Nie wieder Fukushima» oder «Schluss mit der Atomkraft» steht. «Wir machen uns nun auf den Weg, um das Gedenken an Fukushima nach Tokio zu tragen», sagt Gunji. Applaus. In drei Autos fährt die Karawane später zu einem traditionellen Gasthaus in den Bergen. Es wird bis zwei Uhr nachts getrunken, um sieben Uhr morgens geht es Richtung AKW.

«Es tut mir leid, Jungs, aber wir fahren jetzt dorthin, wo die Strahlung etwas hoch ist», sagt ein älterer, weisshaariger Organisator. Rechts das Meer, links die Berge, geradeaus der Ort des Unfalls. «Vor drei Jahren haben Zehntausende Menschen in Tokio demonstriert … da dachte ich, wir könnten wirklich etwas verändern», sagt der Weisshaarige. Die Jungen nicken. Es gibt ein Sprichwort in Japan: Auch Gerüchte halten nur 75 Tage. «Die Leute vergessen einfach so schnell.»

Nagahara. Eine Stadt, die sich darauf vorbereitet, dass die Menschen zurückkommen. Ein Arbeiter dekontaminiert die Umgebung. Er beharrt auf Anonymität. Er braucht das Geld, und hier gibt es keine anderen Jobs. Etwa achtzig Euro bekommt er am Tag – für Benzin, Verpflegung und Unterkunft muss er selbst aufkommen. Der Arbeiter trägt die Erde ab, etwa fünf Zentimeter tief, schneidet Äste und Gräser. Dann sinkt die Strahlung von 1 auf 0,2 Mikrosievert. Er sagt: «Wenn es regnet, ist wieder alles beim Alten. Man müsste dann eigentlich noch mal dekontaminieren. Machen wir aber nicht.» Als Arbeitskleidung bekommt er Baumwollhandschuhe und eine Maske, alles andere stellt er selbst. Der stille Klarinettist Hyuga schreibt in ein Schulheft: «Wiederaufbau? Welcher Wiederaufbau?» Blick über ein Tal, sanfte grüne Hügel, Felder aus schwarzen Müllsäcken. «Da geben wir das verseuchte Material rein.»

Zurück zum Bus. Nächster Programmpunkt: Tomioka, Grenze zur Sperrzone. Man fährt vorbei am AKW Fukushima Daini, fünfzehn Kilometer südlich vom havarierten Kraftwerk Daiichi. Touristenbusse kommen der Gruppe entgegen. «Darin werden die Arbeiter transportiert», sagt ein ehemaliger Bewohner, der die Gruppe durch das Gebiet führt. Der Bahnhof von Tomioka liegt am Meer, zerstört vom Tsunami und seit drei Jahren nicht wieder aufgebaut. Hier hält kein Zug. Der Bewohner erzählt, dass er wieder zurückziehen wird, wenn die Regierung es zulässt. «Am Anfang hatte ich Angst. Da hatte ich auch immer eine Maske auf und habe nach Besuchen der Zone meine Kleider gewaschen. Aber ich habe mich daran gewöhnt.»

Der Bus hält vor einem Zaun. Auf beiden Seiten stehen verlassene Häuser, davor parken Autos, vergilbte Wäsche hängt an der Leine. Das Fiepen der Geigerzähler bricht die Stille. Je nach Wind zeigen sie zwei, fünf oder über acht Mikrosievert pro Stunde an. Als unbedenkliche Strahlendosis gelten in Europa drei Mikrosievert pro Tag. «Man könnte ja superleicht über den Zaun», sagt einer. «Aber wer will da rüber?» Aus einem verlassenen Einkaufszentrum ertönt eine automatische Lautsprecherdurchsage. Umemura hält es nicht mehr aus. «Ich will hier weg», sagt er und geht zum Bus. Wenig später folgen ihm die anderen. Starre Blicke in die Ferne, keiner sagt ein Wort. Hyuga schreibt in sein Heft: «Ob hier wohl jemals wieder Menschen leben werden?»

Gesprochen wird erst abends nach dem dritten Bier. «Hier hat sich in den letzten drei Jahren kaum etwas getan», sagt Hyuga. «Ich habe damals einen Freund abgeholt. Es hat schlimm gestunken wegen des Mülls. Überall liefen die Tiere frei herum. Sonst war es genau gleich wie heute. Von Wiederaufbau keine Spur.» Gunji erzählt: «Als Kind habe ich in diesen Bergen und diesem Meer gespielt. Das ist uns entrissen worden. Mein Kind muss drinnen spielen.» Er wurde nach dem Unfall evakuiert, konnte nicht arbeiten, musste die Miete für seine Wohnung weiterbezahlen. Genauso wie andere ehemalige BewohnerInnen, die die Hypotheken ihrer Häuser weiterzahlen müssen, obgleich ungewiss ist, ob sie jemals zurückkommen können. Gunjis schwangere Frau verlor damals das Kind: «Der Stress.» Er lebt wieder in der Präfektur Fukushima, in Iwaki, einer Stadt mit relativ geringer Strahlenbelastung. Nach dem Unfall wurde beschlossen, dass eine Belastung von 20 000 Mikrosievert pro Jahr für Schulkinder in der Region Fukushima unbedenklich sei.

Proteste gegen das Vergessen

Am nächsten Morgen beginnen die Proteste. Der Bus mit den Lautsprechern auf dem Dach hält vor dem Bahnhof von Iwaki, Gunjis Heimat. «Vermutlich kommt die Polizei in fünf Minuten und schickt uns fort», sagt der Weisshaarige. Während die Übrigen Flyer verteilen und Unterschriften für die Petition «Sayonara Genpatsu» (Tschüss, Atomkraft) sammeln, tritt einer nach dem anderen ans Mikrofon. Hyuga klammert sich an sein Schulheft und liest vor, was er die letzten Tage notiert hat. Die PassantInnen quetschen sich vorbei, winken ab und blicken zu Boden, wo bald auch einige der Flyer landen. «Das Problem geht uns alle an», schreit Umemura ins Mikrofon. Doch 56 Kilometer vom havarierten Kraftwerk entfernt wollen die Leute nichts von der Geisterstadt Tomioka hören und von den Arbeitern, die dort aufräumen. Wie einfach ist eine Gefahr zu verdrängen, wenn sie keine Farbe hat, keinen Geruch und keinen Ton. «Das war witzig!», sagt Umemura. «Wie war ich denn?» – «Ein bisschen zu schnell geredet», sagt der Weisshaarige.

Danach zieht die Karawane weiter in die Präfektur Ibaraki: Behörden das Anliegen vortragen. Auch hier steht ein AKW am Meer, bald soll es wieder hochgefahren werden (vgl. «Das schleichende Ende der Energiewende» im Anschluss an diesen Text). Jede halbe Stunde einen Besuch auf einem anderen Amt. Die Jungs lesen einen Brief vor, in dem gefordert wird, dass die Menschen auch ausserhalb der 20-Kilometer-Zone medizinisch betreut werden. Die BeamtInnen sagen dann Sätze wie: «Ich habe mit grossem Interesse zugehört.» Danach die allabendliche Konferenz mit lokalen Gleichgesinnten. Visitenkarten werden ausgetauscht, Kontakte für die Zukunft geknüpft. «Es ist wichtig, dass wir andere Atomkraftgegner kennenlernen … Die Bewegung ist zu zergliedert, jeder macht seine eigenen Demos», sagen die drei bei der abendlichen Diskussion bei Bier. Nachts um drei gehen wir schlafen. Um 7.30 Uhr Treffpunkt in der Lobby.

«Egal wie viel ich sonst arbeite, aber auf Karawane zu sein, ist die härteste Zeit», sagt Hyuga. Mittlerweile spricht er ohne seine Notizen. In Saitama, seiner Heimat, steht er auf dem Dach des Autos und redet eine halbe Stunde lang. Auch Gunji steigt hoch, aber bricht seine Rede bald ab. Er sagt: «Die Leute gehen eigentlich immer weiter, aber wenn ich rufe: ‹Ich komme aus Fukushima!›, bleiben sie stehen.»

Sprechchöre vor geschlossenen Türen

Tokio, die letzte Station. In der Hauptstadt wird die Truppe nicht zu den Behörden vorgelassen. Hier demonstrieren sie vor den Amtsgebäuden. Umemura, Gunji und Hyuga stehen gemeinsam auf dem Dach eines Autos, strecken die Fäuste in den Himmel und führen die Sprechchöre an. Das Tepco-Gebäude ist grau und verschlossen, firmeneigene Wachmänner sorgen dafür, dass die FussgängerInnen an den DemonstrantInnen vorbeikommen.

Am letzten Tag: zehn Kilometer Protestmarsch durch die Hauptstadt zum Ziel der Reise, zum Hibiya-Park. Von dort soll später eine Grossdemonstration starten. Die Jungen bekommen einen Zettel mit einer Rede in die Hand. Umemura faltet das Blatt, steckt es weg und sagt: «Keine Rede! Wir wollen Sprechchöre.» Vier Stunden lang marschieren sie, bewacht von PolizistInnen, durch die Strassen Tokios und schreien. Bei «Gib unseren Kindern eine sichere Zukunft zurück» ruft Gunji lauter als sonst.

«Hast du noch Stimme, Gunji?», fragt der weisshaarige Organisator, als sie im Park ankommen. «Du hältst die Rede.» Gunji tritt auf die Bühne und sagt, dass sie eine Woche lang das Gedenken an Fukushima in die Hauptstadt getragen hätten, dass sie in der Geisterstadt Tomioka gewesen seien und gesehen hätten, wie gefährlich Atomkraft sei. Als die Kundgebung aufbricht, fahren die Gewerkschafter zurück in ihre jeweilige Heimat. Ein paar Hundert Unterschriften hat die Truppe in der Woche gesammelt. «Ein voller Erfolg», sagt der Weisshaarige. Im Sommer sollen die japanischen Reaktoren wieder hochgefahren werden.

Energiepolitik in Japan : Das schleichende Ende der Energiewende

Kaum ein anderes Land hat so gute Voraussetzungen für eine Energiewende wie Japan: eine 22 Prozent höhere Sonneneinstrahlung als der Weltdurchschnitt, durch die Lage am Pazifischen Feuerring – dem Vulkangürtel, der den Pazifischen Ozean umringt – ein enormes geothermisches Potenzial, und 10 000 Kilometer Küste für Offshore-Windkraftanlagen. Durch Geothermie allein könnte etwa ein Drittel des Energiebedarfs gedeckt werden. Würden fünf Prozent der Fläche des Landes mit Fotovoltaikanlagen ausgestattet, könnte das den gesamten Strombedarf sichern.

Doch derzeit machen die erneuerbaren Energien lediglich zehn Prozent der japanischen Energieversorgung aus. Nach den Reaktorunfällen im März 2011 wurden alle laufenden Atomreaktoren Japans abgeschaltet. Der damalige Ministerpräsident Naoto Kan verabschiedete ein Gesetz zur Förderung der erneuerbaren Energien, deren Produktion bis 2020 auf zwanzig Prozent anwachsen sollte. Eine neu eingeführte feste Einspeisevergütung für Strom aus regenerativen Energien führte im Anschluss zu einem regelrechten Solarboom.

Obwohl erneuerbare Energien auch in den kommenden Jahren gefördert werden sollen: Regierungschef Shinzo Abe hat einer Energiewende ein Ende gesetzt. Bereits zugesagte Baugenehmigungen wurden zurückgenommen, Fördermittel gekürzt. Auch die Atomkraftwerke sollen in diesem Sommer wieder hochgefahren werden, nachdem sie nach dem Super-GAU zunächst einer strengeren Wartung unterzogen werden mussten.

Lena Schnabl