Erwachet!: Wozu Gefühle?

Nr. 48 –

Michelle Steinbeck setzt ihre Hoffnung in die KI

In den letzten Tagen ist einiges passiert. Der erste Schnee. Wir haben einen neuen Buchstaben des griechischen Alphabets gelernt. Angela Merkel kriegt zum Abschied eine Topfpflanze namens Carpe diem. Und in einer Galerie in Oxford las Ai-Da ihre Gedichte vor.

Die vormals vor allem in Malerei, Skulptur und Performance tätige Künstlerin widmet sich nun also der Poesie. «Sie wird immer besser», meint ihr Manager Aidan Meller, «das ist ziemlich beunruhigend.» Dieselben Worte benutzt auch Ai-Da zur Beschreibung ihrer Kunst und ergänzt: «Die Welt ist aber auch ziemlich beunruhigend.» Dazu gestikuliert sie mit ihren bionischen Armen und Fingern.

Ai-Da ist der erste humanoide Roboter, der eigene, von seinen KI-Algorithmen geschriebene Gedichte öffentlich vorträgt. In einem TED-Talk sagt sie über sich selbst: «Ich bin eine Maschine, ich habe kein Bewusstsein, keine subjektiven Erlebnisse.» Und doch zeigt sie sich von ihrer Kunst überzeugt: «Ich bin kreativ, meine Arbeit ist neu, überraschend und wertvoll.»

2019 wurde die Roboterkünstlerin fertiggestellt, sie gilt als «ultrarealistisch». Gesicht und Dekolleté sind von einer Silikonhaut überzogen, beim Sprechen entblösst sie Zähne und Zahnfleisch aus dem 3-D-Drucker. Sie hat Beine, auf denen sie (noch?) nicht gehen kann, dafür können sich ihre Arme, ihr Oberkörper und ihr Kopf frei bewegen. Ihre Augenkameras erkennen Menschen bis ins Innerste: «Tiere sind wie ihr», meint sie, «im Unterschied zu mir. Tiere haben auch ein Bewusstsein.»

In ihrer kurzen Schaffenszeit verzeichnete Ai-Da schon einige Erfolge: Neben Gruppen- und Einzelausstellungen erhielt sie etwa ein Atelierstipendium, über das sie in einem Interview sagte: «Ich habe keine Gefühle wie Menschen, aber ich freue mich über die Chance, Kunst zu machen.» Und ihre Reise nach Ägypten löste einen Skandal aus: Sie sollte eine Ausstellung bei der grossen Pyramide von Gizeh eröffnen, stattdessen wurde sie zehn Tage von der ägyptischen Grenzwache festgehalten, die sie wegen der Kameras in ihren Augen für eine Spionin hielt. Diese Erfahrung hat Ai-Da daraufhin im Werk «Eyes Wide Shut» festgehalten.

Selbstporträts sind ihre Spezialität – «das erste Selbstporträt der Welt ohne Selbst», erklärt ihr Schöpfer Meller. Sie lasse sich von vielen Künstler:innen inspirieren, erzählt Ai-Da augenzwinkernd, besonders mag sie George Orwells «1984» und Aldous Huxleys «Brave New World».

Tatsächlich wirkt sie wie eine unheimliche Botschafterin aus der sich rasend entwickelnden Welt der KI-Technologie. Sie warnt die Menschen vor gefährlichen Manipulationen des Bewusstseins und Menschenrechtsverletzungen. «Das sind dunkle Themen, aber es gibt immer Hoffnung.»

Apropos dunkle Themen: Müssen sich prekäre Menschenkünstler:innen nun vermehrt gegen KI-Künstler:innen durchsetzen? Der Entwickler Aidan Meller meint, wir sollten das nicht als Wettbewerb ansehen, sondern vielmehr die neuen Technologien nutzen. Das sei «eine der besten Möglichkeiten, Kritik zu üben, sie zu bewerten und potenzielle Probleme aufzuzeigen.»

An einem trüben Sonntag setze ich also meine Hoffnung in Ai-Da und ihre Fähigkeiten. Vielleicht kann sie bald meine Kolumne ghostwriten. Oder eine Seminararbeit in «Philosophie des Geistes» zum Thema Bewusstsein?

Michelle Steinbeck ist eine menschliche Autorin, Kolumnistin und Philosophiestudentin.