Proteste in Serbien: Eine Stadt im Fadenkreuz
Drei Tage lang wüteten in der Kleinstadt Valjevo serbische Polizisten und regimetreue Hooligans, doch die Bürger:innen wollen sich durch die Gewalt nicht kleinkriegen lassen.


Am Mittwoch, dem 13. August, bricht am Abend die Gewalt über die serbische Kleinstadt Valjevo herein. Die meisten Demonstrant:innen haben die Strasse vor dem Büro der regierenden serbischen Fortschrittspartei (SNS) bereits verlassen. Nur noch wenige Menschen stehen vor dem Café Romana an der Ecke, als plötzlich etwa dreissig Männer in die Strasse stürmen, maskiert mit Sturmhauben, bewaffnet mit Baseballschlägern und Eisenstangen. Ein älterer Mann versucht, das Café mit einer Holzlatte zu verteidigen.
«Mein Vater», sagt Luka und deutet auf den Bildschirm, auf dem er das Video einer Überwachungskamera abspielt. Eine Woche ist seit dem Angriff vergangen, als wir mit dem Neunzehnjährigen im Café seiner Familie sitzen. Dass ausgerechnet das «Romana» angegriffen wurde, ist kein Zufall. In den Monaten zuvor war das kleine, holzvertäfelte Lokal zum Treffpunkt für Schüler:innen und Studierende geworden, die dort Proteste gegen die Regierung planten.
Die zerschlagenen Fensterscheiben sind inzwischen ersetzt. Doch Lukas Vater muss täglich zur Nachsorge seiner Prellungen ins Spital. Lukas dreizehnjähriger Bruder sitzt auf einem Stuhl in der Ecke, den Arm in einer Schlinge, das Knie verbunden, um den Hals eine Krause. Er ist gestürzt und kurzzeitig ohnmächtig geworden, als ein Böller zwischen seinen Beinen explodierte. Luka selbst sagt, er habe in der gesamten letzten Woche keine zehn Stunden geschlafen. Seine Haut ist blass, die Augen rot unterlaufen, die Unterlippe zittert, wenn er spricht. «So etwas habe ich nicht einmal in den schlimmsten Filmen gesehen», sagt er. «Wir riefen nach der Polizei, die nur zwanzig Meter entfernt stand. Aber sie griff nicht ein.»
Der Überfall ist der Auftakt einer drei Tage andauernden Gewaltwelle, ausgeführt von paramilitärisch auftretenden Schlägertrupps – und von Einheiten der Polizei. Sie richtet sich gegen all jene, die sich in den vergangenen Monaten gegen das Regime des autokratisch regierenden Präsidenten Aleksandar Vučić stellten. «Es wirkt, als habe Vučić hier in Valjevo ein Exempel statuieren wollen», sagt Nataša Perišić, die Anwältin von Lukas Familie.
Schockgranaten und Tränengas
Seit fast zehn Monaten dauern die Proteste gegen das Regime von Präsident Aleksandar Vučić nun schon an. Sie begannen im November, als in Serbiens zweitgrösster Stadt Novi Sad das Vordach des gerade renovierten Bahnhofs einstürzte, wodurch sechzehn Menschen getötet wurden. Statt die Ursachen aufzuklären, versuchte die Regierung, den Vorfall herunterzuspielen. Studierende besetzten daraufhin Universitäten, mobilisierten landesweit Hunderttausende. Zunächst forderten sie ein Ende der Korruption, seit drei Monaten verlangen sie Neuwahlen. Vučić lehnt ab. Er spricht von «ausländischer Einflussnahme», nennt die Demonstrierenden «Verräter» und erklärte, er werde «lieber sterben, als eine Übergangsregierung zuzulassen».
Nachdem die Proteste über den Sommer etwas abgeflacht waren, eskaliert seit zwei Wochen die Gewalt. In der Kleinstadt Vrbas, 160 Kilometer nördlich von Belgrad, überfielen regierungsnahe Schläger eine Versammlung von Regimegegner:innen. Unter dem Hashtag «Wir sind keine Boxsäcke» riefen Demonstrierende im ganzen Land zur Gegenwehr auf, griffen Parteibüros der SNS an und setzten mehrere davon in Brand. Manche Medien warnen bereits vor einem drohenden «Bürgerkrieg».
Besonders hart traf die Gewalt nun Valjevo, eine Kleinstadt etwa hundert Kilometer südwestlich von Belgrad. Knapp 60 000 Menschen leben hier, in einer Region, die bekannt ist für Klöster, Himbeerplantagen, saubere Luft – und für ihre Lithiumvorkommen. Schon seit mehreren Jahren demonstrieren hier Bürger:innen gegen den geplanten Bau einer Mine des globalen Bergbaukonzerns Rio Tinto, der in den kommenden Jahren vor allem die Nachfrage der europäischen Autoindustrie decken soll. Und auch in den vergangenen Monaten waren hier Tausende auf der Strasse, um gegen Korruption und für Neuwahlen zu demonstrieren.

Nataša Perišić.

Als wir Valjevo besuchen, flirrt die Hitze über dem Asphalt. Die Spuren der Eskalation sind nicht zu übersehen: Auf die Strasse wurde in roten Lettern «SNS Ubice» («SNS Mörder») und «1312», der Code für «All cops are bastards», gesprüht. Die Fenster des Rathauses sind eingeschlagen und mit Pappe notdürftig verdeckt. «Das war die Reaktion unserer Leute», sagt Tamara Jeremić, die hier alle nur Taša nennen. Sie ist 21 Jahre alt, trägt lange, geglättete Haare, ein schwarzes Top, silberne Sneaker und lange, rosa Gelnägel. An ihrem Oberarm prangt ein grosses, langsam verblassendes Hämatom. Zum Interview hat eine Freundin sie begleitet. Seit einer Woche verlässt Taša das Haus nicht mehr allein.
Am Donnerstag, dem 14. August, einen Tag nach dem Angriff auf das Café Romana, geht Jeremić gemeinsam mit anderen Bewohner:innen auf die Strasse, um gegen die Gewalt am Vorabend zu demonstrieren. Die Studentin der Zahnmedizin ist als Sanitäterin unterwegs, wie so oft. Sie trägt eine rote Weste und einen grossen Erste-Hilfe-Rucksack. Dann eskaliert die Gewalt erneut. Den Demonstrierenden stellen sich Hunderte Polizisten in den Weg – nicht nur aus Valjevo, sondern auch aus Nachbarstädten.
«Plötzlich sind sie auf uns losgegangen», sagt Jeremić. Sie hätten Schockgranaten und Tränengas in die Menge gefeuert, die Menschen auseinandergetrieben. Beim Versuch, zu fliehen, sei eine ältere Demonstrantin gestürzt. «Ich wollte sie verarzten», sagt Jeremić. In dem Moment seien behelmte Polizisten auch auf sie losgestürzt. «Ich rief: ‹Bitte nicht mich, ich leiste Erste Hilfe, hier ist eine Verletzte!› Es war ihnen egal. Sie schlugen auf mich ein.» Wie viele Polizisten es waren, wisse sie nicht mehr. «Ich schloss aus Angst die Augen.»
Tamara Jeremić sei nicht die Einzige, die an jenem Donnerstag Ziel von Polizeigewalt geworden sei, sagt die Anwältin Jana Aćimović Planojević. Sie sei zu Hause gewesen, als sie den Anruf einer verzweifelten Mutter erhalten habe. Deren fünfzehnjähriger Sohn sei nicht nach Hause gekommen, sie habe ihn aber auf einem Video entdeckt, das in sozialen Medien kursierte. Darauf ist ein zusammengekrümmter Körper in der Mitte einer breiten Strasse zu sehen. Knapp zwanzig Polizisten mit weissen Helmen stürmen auf ihn zu. Mehrere von ihnen beginnen, mit Schlagstöcken auf die Person einzuprügeln, sie zu treten, bevor sie von Männern in Zivil weggeschleppt wird.
Der Fünfzehnjährige ist einer von vielen. Aćimović vertritt vier Minderjährige und zwei Volljährige, die am 14. August angegriffen wurden. «Die Polizei zog die Karađorđeva-Strasse entlang und schlug wahllos auf Menschen ein, die sich zufällig dort aufhielten», erzählt sie. «Sie zerrten Leute aus Wettbüros, Bäckereien oder Taxis, schlugen sie zusammen und nahmen sie fest.»
Noch am selben Abend versammeln sich Eltern vor der Polizeistation, werden aber nicht zu ihren Kindern durchgelassen. Inzwischen habe sie ein Team unabhängiger Gerichtsmediziner:innen damit beauftragt, einen Bericht zu verfassen, sagt Aćimović. Sie bereite eine Strafanzeige gegen die Polizei vor, unter anderem wegen Amtsmissbrauch, Folter und Misshandlung. Dass sie Erfolg haben wird, glaubt sie nicht. «Ich habe als Bürgerin das Vertrauen in Polizei und Staatsanwaltschaft verloren», sagt sie. «Menschen, die friedlich demonstrieren, werden verhaftet, während Schläger, die diese angreifen, geschützt werden.»
Tag drei
Am nächsten Tag, dem Freitag, geht der Angriff auf die Kleinstadt weiter. Trotz ihrer Verletzung vom Vorabend ist Tamara Jeremić wieder auf einer Demonstration, als ein Freund sie anruft. Unter Schock schildert er, dass er beobachtet habe, wie mehrere Männer in die Autowerkstatt ihres Vaters eingedrungen seien – alle maskiert, bewaffnet mit Baseballschlägern, Äxten und Brecheisen. Sie hätten den Vater und einen zufällig anwesenden Kunden zusammengeschlagen. Als Tamara weniger als eine halbe Stunde Jeremić im Spital eintrifft, liegen beide schwer verletzt in der Notaufnahme. Ihrem Vater wurden Hand und Schienbein gebrochen. Ausserdem erlitt er Kopfverletzungen, die genäht werden mussten. Währenddessen marodieren die Täter weiter: In drei Autos, so berichten Augenzeugen, seien sie zum Café Square auf einem Hügel etwas abseits des Stadtzentrums weitergefahren.
Der grosse Spiegel im Café ist zersprungen, im Hinterhof stehen zerstörte Kühlschränke. «Als ich von der Demo nach Hause kam, sah ich die maskierten Männer, wie sie in Autos flüchteten», erzählt der Besitzer Saša Živanović. «Sie haben alles kurz und klein geschlagen: Gläser, Getränke. Nicht einmal die Kaffeemaschine blieb ganz.»
Alle Angegriffenen hätten sich in den Monaten zuvor entweder auf der Strasse oder auf Social Media mit den Regierungsgegner:innen solidarisiert, sagt die Anwältin Jana Aćimović Planojević. Die Politikwissenschaftlerin und Generalsekretärin des Dachverbands der serbischen Jugendorganisationen (Koms), Milica Borjanić, erklärt im Gespräch, das Regime setze auf eine hybride Taktik: einerseits Polizisten, andererseits paramilitärische Schlägertrupps, sogenannte Batinaši. «Viele dieser Männer profitieren vom System oder haben Angst, nach einem Machtwechsel für Vergehen während der letzten zehn Jahre zur Verantwortung gezogen zu werden», so Borjanić.
Vučićs Kalkül
Bereits in der Vergangenheit waren solche SNS-nahen Schlägertrupps im Einsatz, etwa beim illegalen Abriss von Wohnsiedlungen, um Platz für das «Belgrade Waterfront»-Projekt zu schaffen, oder zur Niederschlagung von Protesten gegen den Lithiumabbau im westserbischen Jadartal. Nun scheint es so, als solle auch die aktuelle Protestwelle nach dem Bahnhofsunglück von Novi Sad durch Angriffe dieser inoffiziellen Sicherheitskräfte erstickt werden. Männer, die im Frühjahr einer Studentin mit Baseballschlägern den Kiefer gebrochen hatten, wurden zuletzt von Präsident Vučić persönlich begnadigt.
Die Geschichte der Gewalt in Valjevo ist nach diesen drei Tagen nicht zu Ende. Bewegt von den brutalen Bildern, reisen am Samstag, dem 16. August, Tausende Demonstrant:innen aus dem ganzen Land in die Kleinstadt. Anders als an den Vortagen sichern auf einmal keine Polizeiketten die Parteizentrale. Dafür berichten regierungsnahe Sender live von der Demonstration. Sie filmen, wie die wütenden Demonstrant:innen die SNS-Zentrale in Brand setzen und Fenster des Staatsanwaltschaftsgebäudes sowie des Rathauses einwerfen. Niemand hält die Menge auf. Die Bilder gehen um die Welt, auch europäische Medien berichten darüber. «Vučić wollte diese Bilder provozieren, um sich als Opfer zu inszenieren», sagt Nataša Perišić, die Anwältin der Familie, die das Café Romana betreibt.
Im Fernsehen sagt Präsident Vučić: «Sie wollten in Valjevo Menschen verbrennen, sie warfen Molotowcocktails.» Es sei nur eine Frage der Zeit, bis tatsächlich jemand zu Tode komme. Das werde er mit aller Kraft verhindern – und dafür harte, «bisher beispiellose» Massnahmen ergreifen.
In den Grossstädten Belgrad und Novi Sad hängen Banner mit der Aufschrift «Die Angst hat die Seiten gewechselt». In Kleinstädte wie Valjevo ist die Angst nun zurückgekehrt. «Nach den Angriffen waren die Strassen abends jeweils wie leer gefegt», sagt Nataša Perišić. «Keine Autos, keine Menschen – man hörte nur die Grillen zirpen.» Mit dem drei Tage andauernden Angriff auf Valjevo habe das Regime gezeigt, wozu es bereit sei, um an der Macht zu bleiben. Trotzdem: Die Angriffe hätten nicht nur Angst ausgelöst, sondern vor allem auch Wut. «Und sie haben uns näher zusammengebracht», sagt Tamara Jeremić. Das hätten die 10 000 Menschen, die für die Demonstration nach Valjevo gereist seien, bewiesen. Wenn die nächste Stadt angegriffen werde, würden sie wieder zusammenstehen. Bis dahin ist es wohl nur eine Frage der Zeit.