Nach den Sternen begreifen

Immer wieder tauchen in meinem «Für dich»-Feed bei Tiktok sogenannte Astroinfluencer:innen auf. Aktuell sei es besonders wichtig, Dokumente zwischenzuspeichern, raten sie mir zum Beispiel. Schliesslich sei der «rückläufige Merkur» zu spüren und ein Computercrash oder ein Softwarefehler äusserst wahrscheinlich. Auch für allerlei sonstige Kommunikationsprobleme soll der Stand des Merkurs verantwortlich sein.

Dabei handelt es sich beim rückläufigen Merkur bloss um eine Art optische Täuschung, bei der es – wegen seiner kürzeren Sonnenumlaufbahn – bei uns auf der Erde mehrmals jährlich so aussieht, als würde sich der innerste Planet rückwärts bewegen, wie die schwedische Autorin Liv Strömquist in ihrer Graphic Novel «Astrologie» schreibt. Darin bezieht sich Strömquist auf die Studien des Philosophen und Soziologen Theodor W. Adorno. Dieser untersuchte in den Jahren 1952 und 1953 die täglich in der «Los Angeles Times» erscheinenden Horoskope. Seine Analyse veröffentlichte er unter dem Titel «Aberglaube aus zweiter Hand». Wider Erwarten stellte Adorno fest, dass an Horoskopen erstaunlich wenig Aberglaube, wenig Magisches oder Okkultes dran ist.

Im Gegenteil: Die Ratschläge, die Horoskope erteilten, seien «geradezu parodienhaft vernünftig», schreibt Strömquist dazu. Entgegen den «irrationalen Begründungen», auf denen die Ratschläge jeweils beruhten. Dass die Astrologie im Prinzip nicht über den persönlichen Alltag hinausführe und sich ein Horoskop immer in den Rubriken Beziehungen, Finanzen, Job und Liebe abspiele, das ist für Adorno Zeichen dieser «Pseudo-Vernunft». Die Astrologie spiegle exakt die Widersprüchlichkeit unseres Alltags. Und Strömquist ergänzt: «Man glaubt also quasi an den rückläufigen Merkur, weil sich alles so anfühlt, als sei Merkur rückläufig.»

So lässt sich dann sogar die Wiederwahl Trumps mit dem rückläufigen Merkur erklären. Und der Bruch der Ampelregierung in Deutschland wird zum Beispiel für ein durch den Merkur verursachtes Kommunikationsproblem. Heute noch mehr als zu Zeiten Adornos fühle sich alles unglaublich kompliziert und unbegreiflich an, so Strömquist. Während wir uns angesichts von Klimakrise, Krieg und globalen Konflikten zunehmend hilfloser fühlten, zeigten wir uns immer mehr besessen von der Idee, das eigene Ich zu finden, es zu untersuchen und zu manifestieren. In Zeiten von hyperpersonalisierten Astroapps, die Analysen in Echtzeit liefern, scheinen die Tageshoroskope, die Adorno seinerzeit in der «Los Angeles Times» untersuchte, fast unterkomplex.

In seiner Studie kam Adorno ausserdem zum Schluss, dass sich Astrologie und Zwangsneurosen im Grunde ähnlich seien: Wie die Ratschläge im Horoskop könne das Befolgen von Zwangshandlungen ein Gefühl scheinbarer Kontrolle vermitteln. Gleichzeitig schürt die Astrologie aber munter neue und bisweilen sogar ungekannte Unsicherheiten – so habe ich heute, aus Angst, der rückläufige Merkur könne mir so kurz vor Abgabe einen bösen Streich spielen, dieses Dokument gleich mehrfach gesichert. So behält die Astrologie ihre Doppelrolle – ist gleichzeitig Krankheit und Arznei.