Wahlen in Syrien: Ein Verfahren, das den Autoritarismus stärkt

Nr. 41 –

Nach mehr als fünfzig Jahren Diktatur haben syrische Wahlleute ein Parlament ernannt. Die Bevölkerung durfte nicht mitreden.

Diesen Artikel hören (8:16)
-15
+15
-15
/
+15

Es ist ein Satz, der zunächst nach demokratischer Errungenschaft klingt: Am vergangenen Sonntag hat Syrien ein neues Parlament gewählt – das erste Mal seit dem Sturz des Assad-Regimes vor einem Dreivierteljahr. Abseits der Schlagzeilen ergibt sich allerdings ein komplizierteres Bild. So hatte nicht nur die komplette Abwesenheit von Parteien, Programmen und Plakaten bereits im Vorfeld für Unmut gesorgt, sondern vor allem das Fehlen des allgemeinen und direkten Volkswillens. Von den insgesamt rund 23 Millionen Syrer:innen waren nämlich bloss etwa 6000 Wahlmänner und -frauen stimmberechtigt.

Die Wahlleute waren zuvor in einem diffizilen Verfahren auserkoren worden: Regionale Gremien, eingesetzt von einem Komitee der Übergangsregierung, wählten die Delegierten aus einem Pool von Gemeindevertreter:innen sowie Angehörigen gebildeter und höhergestellter Berufsgruppen aus. Diese bestimmten anschliessend rund zwei Drittel der künftigen Parlamentarier:innen aus ihren eigenen Reihen. Das verbleibende Drittel der insgesamt 210 Sitze soll in den kommenden Tagen von Interimspräsident Ahmad al-Scharaa vergeben werden.

Mehrheitlich sunnitische Männer

Scharaa selbst räumte am Wahltag ein, es gebe «viele offene Probleme» in Syrien und man habe nun «das Beste gegeben», um schnellstmöglich voranzukommen. Wahlkomiteesprecher Nawar Nadschmeh erklärte, dass der gewählte Prozess zwar «nicht perfekt, aber unter den gegenwärtigen Umständen realistischer sei». Schliesslich, so das Argument der Übergangsregierung, gälten in Syrien auch nach dem Ende des fast vierzehnjährigen Krieges noch immer mehrere Millionen Menschen als Binnenvertriebene, die wegen Verwüstung und Zerstörung nicht in ihre früheren Häuser zurückkehren könnten. Weitere Millionen lebten im Ausland – viele von ihnen weder registriert noch im Besitz der notwendigen Dokumente.

Das sehen indes längst nicht alle so. In einer gemeinsamen Stellungnahme übten Vertreter:innen der syrischen Zivilgesellschaft kürzlich harsche Kritik am Wahlprozess. Menschenrechtsorganisationen bemängelten insbesondere die starke Einflussnahme der Übergangsregierung auf die Zusammensetzung des Parlaments. Andere Kritiker:innen prangerten an, dass keine Quoten für Frauen oder Angehörige von Minderheiten wie Kurd:innen, Assyrer:innen oder Alawit:innen vorgesehen waren.

Entsprechend ist das vorläufige Ergebnis wenig überraschend: Nur vier Prozent der am Sonntag gewählten Parlamentarier:innen sind weiblich, Christ:innen sind bislang fast gar nicht vertreten. Der erste und einzige jüdische Kandidat – ein syrisch-amerikanischer Doppelbürger, über den international mehrfach berichtet worden war – hat den Einzug verpasst.

Hinzu kommt, dass in drei Provinzen gar nicht gewählt wurde: im drusisch geprägten Suweida im Süden sowie in den nordöstlichen Provinzen Rakka und Hasaka, die beide unter Kontrolle der kurdisch dominierten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) stehen. Die Gespräche zwischen Damaskus und der kurdischen Selbstverwaltung über eine politische Annäherung stocken seit Monaten. Die entsprechenden regional verteilten Sitze sollen erst einmal leer bleiben – auf bislang unbestimmte Zeit. Als offiziellen Grund für die verschobene Wahl nannte die Übergangsregierung die angespannte Sicherheitslage.

Fest steht also, dass die überproportionale Mehrheit der Abgeordneten nach jetzigem Stand von arabischen, sunnitischen Männern gestellt wird. «Statt von einer Wahl sollten wir vielmehr von einem Ernennungsprozess sprechen, der von den neuen herrschenden Akteuren geleitet wird», sagt Joseph Daher. Der syrisch-schweizerische Nahostexperte forscht derzeit am Bonn International Centre for Conflict Studies und sieht im Verfahren einen weiteren Schritt zur Machtkonsolidierung Scharaas.

Zwar finden sich unter den bislang bekannten Abgeordneten entgegen den Befürchtungen von Kritiker:innen kaum langbärtige Islamisten mit Nähe zur früheren Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), deren Anführer Scharaa einst war. Auch ist es wahrscheinlich, dass unter den von ihm selbst ernannten Abgeordneten noch einige Frauen sowie Vertreter:innen ethnischer und religiöser Minderheiten sein werden – nicht zuletzt, um westlichem Druck zu begegnen und Scharaas Bemühungen zu unterstützen, sich seit seiner Ernennung zum Präsidenten international als gemässigter Politiker zu präsentieren.

Einzelpersonalien seien aber letztendlich zweitrangig, sagt Daher – auch wenn die Mehrheit der nun Gewählten den neuen Machthabern im Land wohlgesinnt sei. Das eigentliche Problem liege in der fehlenden politischen Teilhabe und der mangelnden Inklusion sowie darin, dass Vertreter:innen bestimmter sozialer Gruppen Gefahr liefen, als Feigenblätter missbraucht zu werden. «In Wirklichkeit dient der Prozess dazu, den fortlaufenden Aufbau eines autoritären Staates zu festigen.»

Tatsächlich verfügt der Präsident laut Übergangsverfassung – die den rechtlichen Rahmen für die fünfjährige politische Transformationsphase vorgibt – über weitreichende Befugnisse. Dazu zählt auch das Recht, Verfassungsänderungen vorzuschlagen, für die er eine Zweidrittelmehrheit im Parlament benötigt. Angesichts der sich abzeichnenden Zusammensetzung gilt eine solche Zustimmung als sehr wahrscheinlich.

Gleichzeitig, betont Experte Daher, hätten in den vergangenen Monaten Menschenrechtsverletzungen stattgefunden, die den Glauben an ein friedliches Zusammenleben im Land erschüttert hätten und noch nicht umfassend aufgearbeitet worden seien. Er verweist dabei auf die Massaker vom Frühjahr, bei denen laut Human Rights Watch an der alawitisch geprägten Westküste rund 1400 Menschen getötet wurden, und auf die schweren Gefechte zwischen drusischen und beduinischen Milizen vom Juli in Suweida, denen ebenfalls Hunderte Zivilist:innen zum Opfer fielen. In beiden Fällen sollen Sicherheitskräfte beteiligt gewesen sein, die der Regierung Scharaas unterstehen. Immer wieder kommt es im Land zudem zu Gewaltausbrüchen, Racheakten und Entführungen. So gab es erst am Montag schwere Zusammenstösse zwischen Regierungstruppen und kurdischen SDF-Einheiten in Teilen Aleppos, wofür sich beide Parteien gegenseitig die Schuld gaben.

Tiefe soziale Gräben

Eine echte nationale Strategie, die auf der Aufarbeitung von begangenem Unrecht beruht, existiert bislang ebenso wenig wie ein inklusiver, partizipativer politischer Prozess, der breite Teile der Gesellschaft einbeziehen würde. Eine von vielen Aktivist:innen herbeigesehnte «Dialogkonferenz» zum Beispiel war Anfang Jahr zwar kurzfristig einberufen worden, war aber schlecht vorbereitet, dauerte bloss einen Tag und wurde weder weitergeführt, noch lieferte sie konkrete Ergebnisse. Seither haben sich die sozialen Gräben im Land noch vertieft; auch unter Oppositionellen herrschte zuletzt angesichts der Frage nach dem Umgang mit Scharaas Führung grosse Zerrissenheit.

Dreissig Monate hat das Parlament nun Zeit, um diese gesellschaftlichen Wogen zu glätten – so lange dauert eine Amtszeit, die jedoch verlängert werden kann. In vier bis fünf Jahren, so hatte es Scharaa bei seinem Amtsantritt angekündigt, soll die erste freie Präsidentschaftswahl stattfinden, bei der die Bevölkerung direkt über ihre Zukunft entscheiden soll. Ob es dann tatsächlich im ganzen Land Wahlplakate, Programme und eine Auswahl aus konkurrierenden Parteien geben wird – oder nur den Anschein davon –, bleibt offen.