Berner Reitschule: «Kommt zu uns, wir brauchen euch!»
Nach mehreren Gewaltvorfällen schloss der Berner Kulturort zuletzt für zwei Wochen seine Tore. Dreissig Jahre nach der Auflösung der offenen Drogenszenen ringt wieder ein autonomes Zentrum mit seiner Verantwortung für die, die sonst nirgends Platz finden.

Langsam öffnet sich das Tor. Im pinken Rauch steht ein Elefant: bunt, fast lebensgross, aus Pappmaché. Er ist das neue Maskottchen der Berner Reitschule, die am 22. Januar, einem Mittwoch, nach zwei Wochen notfallmässiger Schliessung wiedereröffnet wird. «Wir haben es nicht gern kompliziert», hat Performerin Sandra Künzi gerade gesagt, die mit Kollege Matto Kämpf am Mikrofon steht. Aber die Ereignisse rund um die Reitschule sind kompliziert. Was ist passiert? Um das zu verstehen, hat die WOZ vor und nach der Wiedereröffnung viele Gespräche geführt.
Die Reitschule, ein markanter Bau aus dem 19. Jahrhundert, wenige Hundert Meter vom Bahnhof entfernt, wurde 1987 besetzt und hat seit den neunziger Jahren einen Gebrauchsleihvertrag mit der Stadt Bern.* Sie ist Kultur- und Arbeitsort für diverse Kollektive, von Kino über Infoladen bis «Drucki», und heute offiziell Kulturgut von nationaler Bedeutung.
In einem Communiqué vom 7. Januar schrieb die Reitschule, in den Wochen zuvor sei die Gewalt eskaliert. «Eine repressive Asylpolitik, eine gescheiterte Drogenpolitik und der systematische Abbau sozialer Infrastruktur haben zu einer unhaltbaren Situation geführt. Konkret zeigt sich dies in Deal, Bandenkrieg, Perspektivlosigkeit sowie psychischem und sozialem Elend.»
Später kritisieren Reitschul-Aktivist:innen ihr eigenes Communiqué, insbesondere das Wort «Bandenkrieg».
Die Politiker:innen und ihre Kinder
Hinter den geschlossenen Türen der Reitschule treffen sich im Januar täglich Dutzende Aktivist:innen. «Es gibt Vollversammlungen mit mehr als hundert Leuten», sagt David Böhner (57), Reitschüler seit den neunziger Jahren, inzwischen auch Stadtparlamentarier für die Alternative Linke. Sie nennen ihn hier Detti, und Detti ist verhalten optimistisch. «Nach Corona hatte ich den Eindruck, die Leute seien vereinzelter, aber jetzt sehe ich viele, teils neue Gesichter, die sich einbringen wollen.» Wer nicht in Bern wohne, müsse verstehen, wie viel auf dem Spiel stehe:
«Seit vierzig Jahren ist das der Brennpunkt der Stadt. Jede Generation von Jugendlichen, die seither in Bern aufgewachsen ist, ist auch mit der Reitschule aufgewachsen. Die Politiker:innen waren früher entweder selbst dort – oder ihre Kinder sind jetzt bei uns. Die Bedeutung der Reitschule zeigt sich auch daran: Wir schliessen für zwei Wochen, und die ganze Schweiz berichtet darüber.»
Die Schützenmatte und der Vorplatz sind nicht zum ersten Mal Gegenstand öffentlicher Debatten. Schon seit Jahrzehnten wird dort gedealt, treffen sich dort Leute, um Abende und Nächte zu verbringen, kommt es immer wieder zu Gewaltvorfällen. Die beiden Plätze gehören zusammen. Die Grenze verläuft unter der Eisenbahnbrücke, die das Areal zweiteilt: Auf der einen Seite liegt die Schützenmatte, für sie ist die Stadt zuständig; für den Platz auf der anderen Seite fühlt sich seit den neunziger Jahren die Reitschule verantwortlich.
Blick zurück auf die offene Szene
In den achtziger und frühen neunziger Jahren konzentrierte sich das «Drogenproblem» im Zentrum von Zürich: zuerst auf dem Platzspitz, dann auf dem Letten. Heroinabhängige, Dealer, Elend und Beschaffungskriminalität waren sichtbar, vor allem im Kreis 5. Mitten in der Szene bewegte sich WOZ-Fotografin Gertrud Vogler (1936–2018). Während andere die «Drögeler» dämonisierten und voyeuristisch mit dem Zoom durch die Büsche ablichteten, nahm Vogler die Menschen ernst, baute zu vielen von ihnen Vertrauen auf und porträtierte sie einfühlsam.
1992 räumte die Polizei den Platzspitz, im Februar 1995 den Letten. Dank des Engagements von Basisaktivistinnen, Ärzten und Politikerinnen wurde die Drogenpolitik weniger repressiv und setzte stärker auf Gesundheitsversorgung. Viele Konsument:innen fanden Stabilität in den Heroinabgabeprogrammen, doch mit der neuen Unsichtbarkeit begann auch eine Zeit der Verdrängung und Gentrifizierung. Dreissig Jahre später lädt die Photobastei zu einer Ausstellung von Voglers Fotos. Ausserdem sind Videoporträts von Claudia Acklin und Heinz Nigg zu sehen, die 1995 unter dem Titel «Letten it be» entstanden.
Ausstellung vom 21. Februar bis 9. März, photobastei.ch.
Im Dezember eskaliert die Situation – wieder einmal: Innert kurzer Zeit werden zwei Personen schwer verletzt. Ein Mann hackt einem anderen einen Finger ab. Aufschrei. Debatten. Die Reitschule schliesst. Ist die Drogenszene endgültig ausser Kontrolle geraten? Scheitert die Reitschule – wie schon andere autonome Zentren – am Umgang damit? Mitte Januar sagt Simon (29), der wie die meisten hier Zitierten der WOZ nur seinen Vornamen nennen möchte: «Wir haben den Anspruch, dass der Vorplatz uns und nicht dem Staat gehört, dass wir da keinen Sicherheitsdienst tolerieren. Wir müssen uns fragen, ob wir diesem Anspruch noch gerecht werden können.»
Simon ist seit zehn Jahren aktiver Reitschüler und Mitglied des Kollektivs, das das Restaurant Sous Le Pont und die Bar Rössli betreibt. Das «Rössli» öffnet seine Türen zum Vorplatz hin. «Deal und Klau hat es hier schon immer gegeben», sagt Simon. «Mal war es mehr, mal weniger. In letzter Zeit höre ich auch aus meinem eigenen Umfeld, dass Leute sagen: ‹Es ist einfach verdammt unangenehm auf dem Vorplatz.›» Und es werde unangenehmer, je weniger Leute die Reitschule besuchten. Ein Teufelskreis. Denn die Reitschule und die Gastrobetriebe leiden an Besucher:innenmangel. Der «Sous Le Pont» habe sich nie ganz von Corona erholt, sagt Simon.
«Früher, als noch mehr Leute, die nicht Drogen konsumieren oder dealen, auf dem Vorplatz Zeit verbracht haben, hat das die Situation abgefedert. Natürlich, es gab immer mal wieder Probleme. Aber die Leute sind gekommen. Nach einem Polizeieinsatz oder wenn irgendeine Zeitung negativ über die Reitschule berichtet hat, haben uns die Leute die Bude eingerannt. Heute ist das anders. Vielleicht ist die Reitschule Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Es gibt heute viel mehr Freiräume in der Stadt als noch vor dreissig Jahren. Projekte, die ich enorm wichtig finde, aber auch immer mehr gewinnorientierte Angebote mit alternativem Anstrich.»
Die Reitschule hat eine Telefonnummer, bei der sich die Polizei melden kann. Das ist Teil der Leistungsvereinbarung mit der Stadt. Es kam auch schon vor, dass Reitschüler:innen wegen Gewalt in Innenräumen die Polizei selbst gerufen haben. Doch normalerweise ist sie auf dem Gelände nicht präsent.
Seit vielen Jahren kümmert sich ein Teil des Kollektivs darum, auf dem Vorplatz deeskalierend zu wirken, so gut wie möglich für Sicherheit zu sorgen. «Wellness» nennt sich die Gruppe. Jules (27) war vier Jahre Teil davon. Heute macht Jules Lichttechnik in der Reitschule.
«Ich höre oft: ‹Wenn ihr seht, dass es sich zuspitzt auf dem Platz, müsst ihr die Bullen anrufen.› Wie stellt ihr euch das vor? Das geht soo schnell – das ist ja das Unberechenbare. Gewaltsituationen spitzen sich manchmal innerhalb von dreissig Sekunden zu, dann zückt jemand ein Messer oder sonst eine Waffe, dann ‹räblets›. Wenn es eskaliert, hilft es sehr, wenn du versuchst, ruhig zu bleiben. Wer auf dem Vorplatz arbeitet, hat eine Sicherheitsausbildung gemacht und zum Beispiel Methoden gelernt, einer Person das Messer aus der Hand zu schlagen. Bei abgebrochenen Glasflaschen gibt es auch Strategien. Wenn solche Waffen im Spiel sind, musst du auch körperlich werden – mit möglichst wenig Gewalt. Aber es ist auch schon vorgekommen, dass sich Wellness-Leute so bedroht fühlten, dass sie Gewalt ausgeübt haben. Du kommst ja auch krass in einen Verteidigungsmodus. Ich wurde auch schon mit einem Messer bedroht. Aber noch mehr eingefahren ist es mir, als jemand ein Messer ins Bein bekam und es so insane geblutet hat. Dann versuchst du, mit Druckverband das Blut zum Stoppen zu bringen, bis die Sanität da ist … Ich hatte das Glück, nie selber verletzt zu werden, ausser mal ein blaues Auge.»
Jules war Teil einer neuen Generation von Wellness-Aktivist:innen auf dem Vorplatz. Früher galt dieser als Mackerterritorium. Heute würden sich viel mehr Frauen, trans oder nonbinäre Personen wie Jules daran beteiligen: «Das finde ich toll.» Vielleicht habe auch diese Verschiebung innerhalb des Kollektivs zur Schliessung beigetragen: «Im Sicherheitsbereich ist eine neue Generation dabei, die versucht, sich selbst gut zu schauen, und die unangenehme Erlebnisse nicht mit einem Witz verharmlost – die nicht traumatisiert werden will», sagt Jules. «Ich habe grossen Respekt für Leute, die das jahrelang machen, ich arbeite ja jetzt in einem weniger ausgesetzten Bereich.»

«Ohne euch wäre ich gestorben»
Wie Schnee wirbelt die weisse Asche über die Köpfe der rund zwölf Leute, die sich an diesem Donnerstagabend auf der Schützenmatte vor dem Medina-Container treffen. Ein grosses Feuer lodert in einer Schale. Verbrannt werden mit Slogans beschriftete Holzschilder von vergangenen Demonstrationen. In ihrem Container kochen die Aktivist:innen des Vereins Medina mehrmals pro Woche Abendessen (siehe WOZ Nr. 47 / 24). In der unmittelbaren Umgebung dürfen keine Drogen gedealt oder konsumiert werden, auch kein Alkohol. «Wenn einer trinkt und einer kifft, gibt es kaum noch eine Grenze, auch Härteres zu konsumieren», erklärt Livio (34), Mitinitiant von Medina. Ein paar junge Männer spielen nebenan Fussball. Weiter weg stehen ein paar versprengte Gruppen herum. Hin und wieder tritt jemand an sie heran, kurzes Gespräch, Handschlag.
Der 33-jährige Bilel sitzt auf einer Bank neben dem Feuer. Er kommt oft hierher, kennt fast alle Besucher:innen und grüsst sie herzlich. «Das musst du schreiben!», sagt Bilel: «Danke, Medina, danke, Reitschule – ohne euch wäre ich gestorben.» Seit dreizehn Jahren lebt er in der Schweiz, aufgewachsen ist Bilel in Algerien. Der Asylentscheid war negativ, lange sei er kokainsüchtig gewesen, erzählt er. «Medina hat mir gesagt, wo ich hingehen, wo ich Sport machen kann.» Jetzt hilft er selber mit, macht Übersetzungsarbeit. Bilel spricht Spanisch, Französisch, Arabisch, Deutsch und Berndeutsch.
«Vier Leute kenne ich, die schon gestorben sind. Wir haben keine Familie, gar nichts. Aber wenn wir hierherkommen, ist das wie eine Familie. Spass haben wir hier. Leute kommen essen, haben Probleme, wir helfen. Wir helfen uns, wir helfen einander. Es ist wie eine Therapie. Ich brauche Therapie, und ich mache Therapie. Sie sagen, wir gehen zur Reitschule, um kriminell zu sein. Sie sagen: ‹Die Reitschule sorgt für Kriminalität.› Aber die Reitschule und Medina helfen den Leuten. Eigentlich ist die Polizei kriminell, ist das Migrationsamt kriminell. Sie haben mich verhaftet, haben mich traumatisiert. Fick la police – mein Name ist 1312!»
Drinnen die autonome Selbstverwaltung, draussen die linkste Stadt der Deutschschweiz. Seit 2023 betreibt sie auf dem Platz ein «Schutzmobil», einen Bauwagen, der nachts an den Wochenenden einen sicheren Raum bieten soll. Auch einen privaten Sicherheitsdienst hat die Stadt engagiert. Er ist für die Schützenmatte, nicht aber für den Vorplatz zuständig. Direkt nebenan, an der Hodlerstrasse, liegt seit 2001 eine Kontakt- und Anlaufstelle für drogenabhängige Menschen, betrieben von der Stiftung Contact.
Der stellvertretende Geschäftsleiter Carl Müller (60), seit 35 Jahren bei Contact, erzählt vom langen politischen Kampf, bis Konsumräume, damals «Fixerräume» genannt, akzeptiert waren. Einen geeigneten Standort zu finden, ohne von der Nachbarschaft mit Einsprachen eingedeckt zu werden, sei immer schwierig gewesen. An der Hodlerstrasse habe es geklappt – die Nähe der Reitschule sei Zufall.
«In den neunziger Jahren hat man eingesehen, dass man die Szene nicht verschwinden lassen kann, dass man sie aber durch schadensmindernde Massnahmen für die Öffentlichkeit verträglicher machen kann», sagt er. «Abhängige gehen hin, wo die Dealer sind, und Dealer lassen sich nicht mit Sozialarbeit vertreiben.» Zur aktuellen Situation auf der benachbarten Schützenmatte und dem Vorplatz will Contact aber keine Stellung beziehen. «Das können wir nicht beurteilen. Wir sind zwar Nachbarn, aber unsere Zielgruppen sind andere. Es sind zwei unterschiedliche Szenen.»
Andere, die die Szene gut kennen, bestreiten das.

Böse Dealer, arme Süchtige
Die offenen Drogenszenen der neunziger Jahre funktionieren als Drohkulisse, die auch heute noch über dem Diskurs schwebt – meist unausgesprochen. Dreissig Jahre ist es her, dass in der Stadt Zürich die Szene beim Letten geräumt wurde (vgl. «Blick zurück auf die offene Szene»). Schon etwas früher, 1992, räumte die Polizei in Bern den Kocherpark. 1991 hatte der Bund die Vier-Säulen-Strategie eingeführt: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression. Sie prägt die Drogenpolitik bis heute, und man ist stolz darauf. Nicht nur zu Unrecht. Die Erkenntnis, dass Repression allein nicht reicht, um dem Drogenelend beizukommen, war wegweisend. Substitutionstherapie, Anlaufstellen, die Abgabe von sauberem Konsummaterial – die Schweiz war damals visionär.
Doch während Schweizer Konsument:innen Hilfe bekamen, ging der Staat mit neuer Intensität gegen Migrant:innen vor. Asylsuchende als Täter: Angeblich trugen sie als böse Dealer die Schuld für das Elend in Schweizer Strassen. Explizit zur Bekämpfung des Drogenhandels führte die Schweiz vor dreissig Jahren die «Zwangsmassnahmen im Ausländerrecht» ein, auch «Lex Letten» genannt: bis heute die Grundlage für Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft, jahrelange willkürliche Inhaftierung, für Ein- und Ausgrenzungen. Ein Referendum dagegen scheiterte im Dezember 1994.
Und heute? Läuft die Diskussion wieder genau gleich. Nora Hunziker (32) von der Kirchlichen Gassenarbeit Bern sagt:
«Im aktuellen Diskurs gibt es Opfer und Täter. Die Konsumierenden sind die Armen. Ausser es sind vielleicht Nichtschweizer. Die armen suchtkranken Schweizer und die bösen ausländischen Dealer. Dabei konsumieren die Dealer oftmals auch, sind psychisch krank. Es gibt keine scharfen Trennlinien, wie sie die rechte Rhetorik suggeriert. Auch die Polizei macht diese Unterscheidung: Sie geht auf den Platz und packt die Leute ein, die irgendwie nicht schweizerisch aussehen, und gibt ihnen eine Wegweisung. Aber du kannst die Probleme, die Themen, die Leute, die Individuen, nicht einfach in Luft auflösen. Irgendjemand konsumiert die Drogen, irgendjemand muss die Drogen verkaufen.»
Der Verein Kirchliche Gassenarbeit Bern besteht seit 1988. «Wir stehen klar auf der Seite der Leute, mit denen wir zusammenarbeiten», sagt Hunziker. Die Gassenarbeiter:innen geben sich einen «seismografischen Auftrag»: Im letzten Jahr besuchten sie während einiger Monate systematisch jede Woche die Schützenmatte. Im Sommer hätten viele Leute unter der Brücke zwischen Schützenmatte und Vorplatz geschlafen. «Das ist wahnsinnig gefährlich», sagt Hunziker. «Wir glauben, dass es nicht genug Schlafplätze in Notschlafstellen gibt.»
Viele der Personen, die vor der Reitschule Drogen konsumieren und dealen, sind aus Maghrebstaaten in die Schweiz eingereist. Viele haben ein Asylgesuch gestellt, das abgelehnt wurde. Deshalb verweist die Reitschule in ihrem Communiqué zur temporären Schliessung auf die repressive Asylpolitik; deshalb überziehen Medien wie die NZZ das autonome Zentrum mit Häme. «Die Welt ist nicht nur bunt, divers, progressiv», belehrte sie die Aktivist:innen. «Stellt man sich nun den Fakten?»
Wer die Herkunft der Menschen nicht leugnet und sich keinen rassistischen Stereotypen hingibt, landet bei einem viel grösseren politischen Kontext – und seinen Widersprüchen. Was hier passiert, beginnt nicht auf der Schützenmatte und wird sich nie in einer Berner Arrestzelle auflösen lassen. Wie einst Platzspitz und Letten in Zürich sind Vorplatz und Schützenmatte Wurmlöcher in eine andere Realität. In eine andere Normalität: Global betrachtet, stellt die Schweiz – ihr Wohlstand, ihre sprichwörtliche Sauberkeit und Sicherheit – die Ausnahme dar. Eine Ausnahme, die in vieler Hinsicht direkt von dieser brutalen globalen Normalität abhängt. Irgendwo müssen die seltenen Erden, der Kakao, das Erdöl, das Kokain und was in diesem Land sonst noch exzessiv konsumiert wird, ja herkommen. Eine Ausnahme, die von der Ungleichheit profitiert, aber nicht verhindern kann, dass einige Menschen aus den prekären Räumen doch auf hiesigen Strassen und Plätzen auftauchen. Die Leute, die zu Medina kämen, fänden die Situation auf der Schützenmatte und dem Vorplatz nicht besonders krass, sagt Livio. «Was für uns der Ausnahmezustand ist, ist für sie Normalität.»
Das zeigt sich im Gespräch mit dem jungen Mann, der vor dem Medina-Container sitzt und in der Zeitung Kitty genannt werden will. Auf die Frage, wie es ihm gehe, macht er eine Wellenbewegung mit der Hand, dann gibt er die Frage zurück. Sein Blick hängt irgendwo in der Ferne, er trägt wenig warme Kleidung und sitzt ganz nah am Feuer.
«Ich lebe in einem Camp und will meinen Weg gehen. Ich bin erst 28, der ganze Asylprozess dauert so lange – so lange kann ich nicht warten, ich will meine Jugend nicht verpassen. Wir sind nicht glücklich in diesem System und suchen nach anderen Wegen. Ein Job wäre gut, Freiheit ist wichtiger. Gewalt hier auf dem Platz kann ein Problem sein, aber das ist nicht so wichtig. Das ist eben das echte Leben hier. Du kannst keine Kontrolle über das ganze Gebiet hier haben, und das ist auch nicht schlimm. Ich bin hier, weil ich in Kontakt treten will.»
«Dealen ist für viele eine der wenigen Möglichkeiten, zu überleben», sagt Livio von Medina. «Zu wissen, dass kaum Aussicht auf legalen Aufenthalt oder reguläre Arbeit besteht, ist Teil der Hoffnungslosigkeit.» Die Aktivist:innen der Reitschule und von Medina haben sich in den vergangenen Jahren eine Expertise in Fragen der Drogen- und Asylpolitik erarbeitet, die den meisten Journalist:innen fehlt. Eine nüchterne Perspektive auch, die sich den Fakten stellt: «Viele Leute reisen in Europa von Land zu Land, die Schweiz ist meist nicht das eigentliche Ziel», sagt Livio.
«Die Gruppen auf dem Platz wechseln sehr schnell, und die Stimmung wird immer unangenehm, wenn sich neue Gruppen etablieren. Ich habe zwei bis drei Schichten pro Monat und kenne die Leute dann oft schon nicht mehr. Viele Migrant:innen sind schwer traumatisiert und sind schon in den Herkunftsländern abhängig von angsthemmenden Medikamenten geworden. Deren Konsum zusammen mit Kokain und Alkohol ist die Mischung, die Monster herbeiruft. Gewalt gibt es oft wegen Missverständnissen, geplatzten Deals, wenn sich jemand ausgenommen fühlt oder tatsächlich ausgenommen wurde. Sie ist selten geplant: Die Behauptung, es gebe hier einen Bandenkrieg, wird tatsächlichen Bandenkriegen nicht gerecht.»
Einzigartig in Europa
Die wichtigste Forderung, die Nora Hunziker von der Kirchlichen Gassenarbeit stellt, ist simpel: Die Stadt soll eine ausführliche Studie in Auftrag geben, um zu untersuchen, wer sich tatsächlich auf dem Vorplatz und der Schützenmatte aufhält. «Um zu untersuchen, was die Leute wirklich brauchen.» Doch die ewige Dringlichkeit der Diskussion, die immer wieder eine unhaltbare Zuspitzung suggeriere, stehe der systematischen Problemlösung im Weg. «Dabei bin ich mir gar nicht so sicher, ob sich die Situation wirklich verändert hat», sagt Hunziker: «Es gibt einfach Aufschrei um Aufschrei um Aufschrei.»
Simon vom «Sous Le Pont» glaubt: «Die Stadtpolitik und die Polizei sind nicht nur unfroh, dass sich so viel vor der Reitschule konzentriert: Wir betreiben hier eine Art Anlaufstelle und machen viel Arbeit, die sonst niemand machen will.» Lou (27) vom Dachstockkollektiv sagt: «Ich würde mir wünschen, dass die WOZ titelt: Kommt alle zu uns in die Reitschule oder in andere Freiräume! Kämpft dafür – wir brauchen euch, die Welt braucht euch!» Simon ist doch zuversichtlich: «Die Schliessung hat das ganze Kollektiv gut durchgerüttelt, und ich habe die Hoffnung, dass das einen langfristigen Effekt haben wird. Dass wieder mehr Leute kommen, die die Reitschule mittragen.» Zumindest am Abend der Wiedereröffnung sind die Appelle angekommen: Das «Sous le Pont» ist rappelvoll.
Das letzte Wort hat Jules:
«Es ist ja schön, es gibt viele andere Orte in Bern, wo man Kultur geniessen kann. Einen Überfluss der Möglichkeiten. Man denkt: Ja, ja, die Reitschule ist eh immer da. Dabei geht völlig vergessen, wie einzigartig sie ist. Im Frühling war ich in London in einem anarchistischen Buchladen und habe einem Verkäufer von der Reitschule erzählt. Ihm fiel fast die Kinnlade runter. Können wir einfach wieder lernen, diesen Ort wertzuschätzen? Fucking hell, er ist nicht selbstverständlich! Ich kenne kein anderes Kulturzentrum in Europa, das mitten in der Stadt liegt, so gross ist, so vielseitige Kollektive hat und schon so lange besteht. Wir müssen wieder verstehen, dass dieser Ort auch bedroht sein kann.»
*Korrigenda vom 13. Februar 2025: In der früheren Version dieses Textes schrieben wir, die Reitschule sei erstmals 1987 besetzt worden. Das ist falsch, sie wurde bereits 1981 zum ersten Mal besetzt, dann aber 1982 polizeilich geräumt. Wir bitten für diesen Fehler um Entschuldigung.