Literatur: «Ich bin wütend, seit ich denken kann»
Heimat ist etwas, das wird: Schriftsteller Behzad Karim Khani über Zugehörigkeit, Rap und idiotische Vorurteile der Literaturkritik.

WOZ: Behzad Karim Khani, Sie nennen Ihr zweites Buch einen «Heimatroman eines Heimatlosen». Ist das nicht ein Widerspruch?
Behzad Karim Khani: Behzad Karim Khani: Nicht ganz. Denn was mein Protagonist Reza anstelle einer geografischen Heimat in Deutschland findet, ist ein Zustand des Fremdseins, in dem er es sich einrichten kann und der auch mit Vorteilen daherkommt. Heimat ist etwas, das wird, nicht etwas, in das man geboren wird. Mit der Diaspora oder dem Exil ist es genauso: Man wird Exilant.
WOZ: «Als wir Schwäne waren» beginnt in den achtziger Jahren, als der elfjährige Reza mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland flüchtet. Der Satz «Du bist Gast hier» sei dort eine Drohung, heisst es einmal. Wie geht Reza damit um, dass seine Familie in diesem Land unerwünscht ist?
Behzad Karim Khani: Zunächst einmal braucht er recht lange, bis er die fehlende Zugehörigkeit annimmt. Er sucht eine ganze Weile nach dem passenden Ort, den richtigen Freunden, den Umgangsformen, mit denen er sich arrangieren könnte. Das tut er nicht nur in der Mehrheitsgesellschaft, sondern hauptsächlich in seinem migrantisch geprägten Umfeld, wo er ebenfalls fremd bleibt.
Behzad Karim Khani
1977 in Teheran geboren, wuchs Behzad Karim Khani in einer Künstlerfamilie auf und musste das Land noch als Kind verlassen. Seit 2003 lebt er in Berlin.
Sein vielfach ausgezeichneter Bestseller «Hund, Wolf, Schakal» (2022) kreist um zwei Brüder, die sich im arabisch-türkisch dominierten Neukölln mit Strassengangs anlegen – vor allem aber nach einem Ausweg aus der Perspektivlosigkeit suchen. Auch sein zweiter Roman, «Als wir Schwäne waren» (2024), erzählt vom Leben in der Diaspora, jedoch stärker autobiografisch geprägt und essayistischer in der Form. Beide Bücher sind im Hanser-Verlag erschienen.
WOZ: Seine Siedlung im Ruhrgebiet beschreibt Reza mit einem anschaulichen Bild: «Unser Viertel ist ein Aquarium. Wir verstehen nur die Scheiben nicht.» Was meint er damit?
Behzad Karim Khani: Das Viertel ist ein Biotop mit eigenem pH-Wert, in dem grosse und kleine Fische schwimmen. Die Scheiben sind die unsichtbaren Regeln, die diesen Ort vom Rest der Gesellschaft trennen. In ihnen zeigt sich der Klassismus unserer Gesellschaft, also die Grenzen, die über Zugehörigkeit entscheiden, die für die Bewohner:innen aber nicht sichtbar sind. Das bemerkt Reza, als er einer Figur begegnet, die sich im Viertel – also im Aquarium – tyrannisch verhält und Macht hat, aber jenseits der Scheiben niemand ist. Reza hingegen bleibt auf beiden Seiten überlebensfähig. Und aus dieser Situation des Hin-und-her-Wechselns betrachtet, gibt es zumindest eine Erzählung für Menschen wie Reza oder auch mich, die im Exil leben: dass wir Weltengänger sind, weil wir beide Seiten verstehen können. Auch wenn wir auf beiden Seiten nicht zu Hause, nicht zugehörig sind.
WOZ: Sie erzählen von der stillen, für Aussenstehende teilweise unsichtbaren Gewalt, wie auch von der körperlichen, die heftig und brutal ist. Ist «Als wir Schwäne waren» ein Buch über Gewalt?
Behzad Karim Khani: Es ist spannend, wie unterschiedlich das Buch gelesen wird. Aus dem Literaturbetrieb kommt die Frage nach der Gewalt häufig, während die migrantische Community mir oft sagt, das Buch sei empowernd, weil ihre Geschichten erzählt würden. Meine Bücher handeln nicht primär von Gewalt, sie erzählen von einer Welt, in der Gewalt existiert. Es geht um die Bausteine des Fremdseins, um die Psychologie der Zugehörigkeit.
WOZ: Und doch ist im Milieu, in dem Reza aufwächst, «Gewalt ein Argument».
Behzad Karim Khani: Ich erzähle natürlich von einer Lebensrealität, aus der ich komme und wo Gewalt dazugehört. Ich habe als Kind sechs Jahre Krieg erlebt, bin in einer patriarchalen Gesellschaft aufgewachsen und war in meiner Jugend mit viel Kriminalität konfrontiert. Wenn ich auf etwas stolz bin, dann darauf, dass ich in einer Welt, in der Gewalt das Argument ersetzen kann, halbwegs würdevoll durchgekommen bin, dass ich nicht abgestumpft bin und mir eine Sensibilität bewahren konnte.
WOZ: Rezas Vater, der im Iran Dichter und Soziologe war, arbeitet in Deutschland als Taxifahrer. Und wundert sich: Warum begrüsst man in Deutschland den Hund und erst dann den Besitzer? Das Land bleibt ihm fremd, er zieht sich in ein inneres Exil zurück. Auf subtile Art erzählen Sie so von Ausgrenzung und Demütigung, also der Gewalt, die von der Gesellschaft ausgeht.
Behzad Karim Khani: Nehmen wir einen Tarantino-Film. Da sterben hundert Leute, aber nichts davon geht einem wirklich nah. Das ist zynische Gewalt – sie soll Spass machen und Lust. Dann gibts diese anderen Filme, und die sind es, die mich interessieren: Da kriegt ein Junge eine Ohrfeige, und plötzlich zieht sich in einem alles zusammen. Weil die Erzählung nah dran ist, zärtlich, ohne Absprungmöglichkeit.
WOZ: Diese Zärtlichkeit erkennen nicht alle. Der deutsche Literaturkritiker Denis Scheck etwa hat Ihr Buch einen «Mafiaroman» genannt.
Behzad Karim Khani: Vollkommen idiotisch. Das zeigt doch nur, dass unsere Geschichten, also Geschichten von Migrant:innen, nicht als selbstverständlicher Teil der Literatur wahrgenommen werden. Dass Erfahrungen, die so einem bürgerlichen Kritiker wie Scheck fremd sind, direkt in irgendein absurdes Genre gesteckt werden. Aber genau diesen Raum nehmen wir uns jetzt.
WOZ: Ihr Debütroman «Hund, Wolf, Schakal» ist mittlerweile auch in der Schweiz eine beliebte Schullektüre. Freut Sie das?
Behzad Karim Khani: Ich habe zwei verschiedene Arten von Publikum: in Literaturhäusern und in Schulaulas. Und was mich am meisten freut, ist gar nicht mal, dass Jugendliche mich lesen, sondern dass sie diese aufgeladenen und vorgefertigten Fragen nicht stellen. Für die geht es nicht um «kriminelle Ausländer» oder irgendein rassistisches Stereotyp. Sie wollen einfach wissen, was mit der Figur passiert.
WOZ: Wie ist es in den Literaturhäusern?
Behzad Karim Khani: Bei fast jedem Gespräch kommt irgendwann der Moment, wo ich sagen muss: «Ich habe kein Debattenbuch geschrieben. Das ist kein politischer Text.» Natürlich hat alles eine politische Dimension – Kunst passiert nie ausserhalb der Gesellschaft, und das verleiht ihr automatisch ein politisches Framing. Ich bin als Mensch politisch, ja. Ich habe eine klare Position zu sehr vielen Themen. Ich äussere mich politisch. Aber in meinen Romanen nicht. Da erzähle ich von einer Welt und erkläre sie nicht.
WOZ: In Ihren Texten schwingt Wut mit. Reza ist wütend. Sind Sie es auch?
Behzad Karim Khani: Ich bin wütend, seit ich denken kann. Wenn ich auf diese Wut nicht zugreifen kann, fehlt mir der Antrieb zum Schreiben. Ich kenne das aus dem Rap. Das erste Nas-Album zum Beispiel gilt für viele Kritiker als das beste Album, das je gemacht worden ist. Wobei «Illmatic» kein wütendes Album ist, es fängt eher die Tristesse des Ghettos ein: das Wissen darüber, dass nichts jemals besser werden wird. Beim zweiten Album treffen wir nicht mehr einen Nas, der gegen seine Realität anschreibt, sondern einen, der seine Realität verändert hat. Es ist ein grosses Album. Etwas ist weg, aber etwas anderes ist dafür da. Die nächsten beiden Alben sind dann leer. Da treffen wir gar keinen Nas mehr.
WOZ: Kann man seine Wut wegschreiben?
Behzad Karim Khani: Eines meiner nächsten Buchprojekte ist ein Jugendroman, ich erzähle darin aus der Sicht eines behüteten Sechzehnjährigen, und der kommt tatsächlich ganz ohne Wut aus. Das befreit mich irgendwie von mir selbst.
WOZ: Inwiefern?
Behzad Karim Khani: Stilistisch. Mir ging zum Beispiel mein Sound so langsam auf die Nerven. Ich hatte das Gefühl, ich wiederhole mich. Meinen Rhythmus. Meine Pointen und Punches. Ich fand mich berechenbar. Dann habe ich Chat GPT gesagt, er solle die «Buddenbrooks» im Behzad-Karim-Khani-Stil schreiben. Als ich das erste Kapitel durchlas, sah ich: Ich bin berechenbar.
WOZ: Die Sprache Ihrer Romane ist rhythmisch, wird oft mit Rap verglichen. Ihre künstlerischen Vorbilder finden sich weniger im klassischen Literaturkanon als in der Musik, oder?
Behzad Karim Khani: Ja, genau. Es ist Musik. Es ist Rap. Es fängt an mit Public Enemy, Kendrick Lamar, Ice Cube, J. Cole. Alles Männer, tut mir leid. Aber so bin ich aufgewachsen, ich kann mich jetzt nicht hinstellen und lügen, ich hätte mit neunzehn Susan Sontag gelesen.
WOZ: Sie haben viele Jahre die Lugosi-Bar in Berlin geführt, sind Mitbegründer der legendären «Bar 25», haben sich also auch in der Gastro- und Musikszene bewegt. Wie passt die Literatur da rein?
Behzad Karim Khani: Literatur war immer Teil meines Lebens, ich habe phasenweise sehr viel und dann wieder über Jahre kaum gelesen, und ich pflege zu ihr seit jeher eine Hassliebe. Mein Vater ist ein renommierter Dichter im Iran, und sein fehlender Bezug zum Profanen hat mich immer wahnsinnig aufgeregt. Der deutschsprachige Literaturbetrieb hat sich in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren sicher geöffnet und ist heute interessierter an neuen Stimmen, hat aber insgesamt ein sehr konservatives Gerüst. Die Musikszene ist definitiv sexyer, da gehen die Menschen auch mal nach acht Uhr raus, nehmen Drogen, tragen nicht diese traurigen Cordhosen, bei denen man nicht weiss, ob sie mal beige waren und im Lauf der Zeit braun geworden sind oder andersrum.
WOZ: Wie würde der Literaturbetrieb Ihnen begegnen, wenn Sie Rapper wären?
Behzad Karim Khani: Manchmal wird so getan, als wäre das Autorsein mit einem gewissen Verhaltenskodex verbunden, der dann irgendwie bedeutet, brav und klein zu spielen und sich gemäss diesem Bild des öffentlichen Intellektuellen zu verhalten. Ich habe das in einem Interview neulich gesagt: Wäre ich Rapper, würden alle sagen: Der Typ ist zu harmlos.