Literatur: Familie und andere Kriegsschauplätze

Die Nachtaufe zum Buch findet am Montag, 10. März 2025, um 20 Uhr im «Sphères» in Zürich statt.
Ihr ganzes bisheriges Leben lang haben Männer über Bell verfügt. Der Kindsvater, der ihr psychische, dann physische Gewalt antat, ihr schliesslich die kleine Tochter Audre wegnahm; der Vater und der Bruder, die sie in dieser Situation im Stich liessen; und schliesslich der fürsorgliche Freund, der sie nicht ernst nahm, sie einengte, kleinhielt. Bell hat sich von allen losgerissen, ist nur noch auf sich allein gestellt.
«Zedern. Und Meer», der neue Roman von Johanna Lier («Amori. Die Inseln»), folgt in zwei Erzählsträngen Mutter und Tochter durch eine kaputte, in Zonen aufgeteilte Welt. Bell lebt in der Nordzone, wo Unwetter die Zedern aus der Erde schwemmen, während Audre – mittlerweile eine junge Frau – in der Südwestzone «Transborder-Reisende» an Land bringt. In Gummibooten treiben die Menschen auf den Strand zu, wo Faschisten sie in die brennenden Wälder jagen: Der Plot ist eine dystopische Zuspitzung unserer Gegenwart.
Mutter und Tochter kennen einander nicht, aber beide sind mit Formen patriarchaler Gewalt konfrontiert. «Nicht nur die von Milizen verwalteten und von Armut betroffenen extrakontinentalen Zonen, nein, auch Familien stellten sich mitunter als von Terroreinheiten beherrschte Kriegsschauplätze heraus», heisst es einmal. Eindrücklich, wie Lier solch komplexe Verbindungen herstellt – nur lesen sich die Figuren zuweilen wie blosse Vehikel für ihre klugen Gedanken. Audre bleibt wenig fassbar. Auch ihre Mitstreiterinnen in der Südzone sind eher skizzenhaft gezeichnet.
Am schönsten ist das Buch da, wo Bell mit sich alleine ist, mit einfachen Handgriffen ihren Alltag verrichtet, zwischen Zedern und Bergbächen, Schlehen und Rotdorn durch die Gegend streift. Aber die Vergangenheit lässt sich nicht abschütteln. Bell denkt ständig an Audre. Ihr kranker, verbrauchter Körper raubt ihr fast den Verstand. Und schliesslich tut sie die Gewalt, die sie selbst erfahren hat, einem anderen an.