Regierungskrise in Frankreich: Jetzt spricht die Strasse

Nr. 37 –

Eine Regierung wird gestürzt, ein neuer Premier ernannt, und die unerhörte Linke versucht mit einigem Erfolg, das Land zu blockieren.

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Es ist so weit. Auf die Barrikaden, jetzt! Es ist Mittwochmorgen, kurz hinter der Pariser Stadtgrenze. Im Vorort Les Lilas versammeln sich ein Dutzend Menschen, um an diesem 10. September auch hier dabei zu sein: an diesem grossen Aktions- und Streiktag unter dem Motto «Bloquons tout» (Alles blockieren). Sie haben sich viel vorgenommen. Seit 6.30 Uhr sitzen die Ersten hier, im Café Royal, umgeben von ergrauten Hochhäusern gleich neben der jüngst eröffneten Metrostation Serge Gainsbourg.

Über Whatsapp kursieren permanent Infos: Die alleinerziehenden Mütter versammeln sich vor der Arbeitsagentur France Travail; eine andere Gruppe will mit Schüler:innen ins Gespräch kommen; andere ziehen los ins Pariser Stadtzentrum, wo zahlreiche Zusammenkünfte und Aktionen geplant sind. Heute spricht die Strasse. Nach zwei politisch turbulenten Tagen, nach dem Rücktritt des Premierministers und der Ernennung eines neuen knapp 24 Stunden später. Eine weitere Regierung, die Präsident Emmanuel Macron ins Feld geschickt hatte, ist passé. Vergebens suchte sie im Parlament nach Mehrheiten, nun sucht Frankreich einen Weg aus dem Schlamassel. Doch das Land ist faktisch unregierbar, seine politische Zukunft sieht düster aus.

Freudestrahlen

Les Lilas, zwei Tage zuvor am Montagabend. Hier leben junge Familien in kleinen Einfamilienhäusern oder wuchtigen Sozialbauten. Ein paar Menschen stehen gut gelaunt vor dem schmucken Rathaus. Luftballons werden aufgehängt, auf einem Klapptisch stehen Pappbecher, den vorbeiziehenden Passant:innen werden Saft und Pflaumenlikör gereicht. Man wartet auf den Ausgang der Abstimmung über die Vertrauensfrage, die Nochpremierminister François Bayrou der Nationalversammlung stellt. Die Stimmung ist gelöst.

Eine ältere Frau trägt eine Weste der Gewerkschaft CGT. Ansonsten sieht man weder Flaggen noch Banner von Parteien oder politischen Organisationen. Die Anwesenden stimmen das seit den Gelbwesten-Protesten berühmte Lied «On est là, on est là, même si Macron ne le veut pas, mais on est là» an. Sie sind also da – ob das Macron gefällt oder nicht. Vielen Älteren ist die Streikerfahrung anzusehen. Aber auch junge Menschen, darunter auffallend viele Frauen, sind gekommen. Kurz vor 19 Uhr schliesslich die Eilmeldung: Premierminister Bayrou ist gestürzt! Es wird applaudiert, ein kleines Mädchen wirft sich in die Arme ihrer Mutter: «Er ist zurückgetreten!», ruft sie freudestrahlend.

Ein letztes Mal noch hatte Bayrou in seiner Rede an das Gewissen der Abgeordneten appelliert, Realitätssinn eingefordert, vor der Schuldenexplosion gewarnt. Aber wie zu erwarten, hat eine deutliche Parlamentsmehrheit Nein gesagt: zu Bayrou und seiner Regierung, zu seinen Sparplänen und implizit zu Emmanuel Macron. Wobei freilich nicht nur die Linke Bayrous Abwahl verantwortet, sondern auch der rechtsextreme Rassemblement National (RN), trotz wiederholter Anbiederungen der Regierung an die Parlamentsrechte.

Fast nur linke Gruppierungen

Der Verantwortliche für das anhaltende politische Chaos sitzt seit acht Jahren im Élysée-Palast. Die gesellschaftlichen Gräben sind während Macrons Zeit als Präsident stetig grösser geworden. Wegen seiner Politik der sozialen Kälte – insbesondere den Sozialstaat hatte der ehemalige Investmentbanker von Anfang an im Visier –, wegen der zunehmenden Repression vonseiten der Sicherheitskräfte, vor allem aber wegen seines fehlenden politischen Gespürs.

So hat der Präsident seine Regierungsmehrheit verspielt, und in einem politischen System, das nicht auf Koalitionen ausgelegt ist, hat das fatale Auswirkungen: Notstandsdekrete, Misstrauensvoten, Neuwahlen und natürlich Unmut und ziviler Widerstand. Dieser zeigte sich auch schon zuvor, am bislang eindrucksvollsten Protest während der Gelbwestenbewegung 2018/19. In Les Lilas erzählen einige der am Montag Versammelten, sie seien schon damals dabei gewesen. So wie Lulu, eine Mittsechzigerin, die wie all die Aktivist:innen ihren Nachnamen nicht nennen will. Sie sagt: «Wir schauen uns das erst mal an. Mal sehen, ob das hier wirklich so gross wird. Die Gelbwesten, das war schon was, da war richtig Wumms drin.» Sie ist skeptisch. Die Situation scheine gesitteter, weniger aufgeladen als seinerzeit. Dafür sind, anders als damals, fast ausschliesslich linke Gruppen und Stimmen an der Organisation des Protests beteiligt, obwohl gemäss Umfragen auch 57 Prozent der RN-Wähler:innen die Bewegung unterstützen.

Keine Kompromisse

Später am Montagabend treffen sich die Demonstrant:innen im Café Royal, um den Streiktag vorzubereiten. Erst einmal geht es um die Traktandenliste und die Regeln. «Wer sind wir eigentlich?», fragt eine der Teilnehmer:innen. Sie heisst Charlotte und versucht, diese Versammlung von rund hundert Menschen zu strukturieren. Sie gibt auch eine Antwort: «Wir haben dieses lokale Kollektiv 2019 bei den Streiks gegen die Rentenreform gegründet», sagt sie. «In den letzten Tagen haben wir Flyer gedruckt, vor dem Wochenmarkt und in der Nachbarschaft dafür geworben, bei ‹Bloquons tout› mitzumachen.»

So wie in Les Lilas haben sich dieser Tage im ganzen Land und in den sozialen Medien Französ:innen organisiert. Auch einige Gewerkschaften und Parteien wie die linke La France insoumise (LFI) haben zum Streik aufgerufen. Alles soll stillstehen: Schulen, Verkehrsbetriebe, Autobahnen, grosse Plätze, überall will man sichtbar sein und stören. «Es muss gestreikt werden, bis alle Forderungen erfüllt werden – keine Kompromisse, keinen Zentimeter zurückweichen!», findet die ältere Aktivistin Nadia kämpferisch. Für solche Grundsatzdiskussionen habe man jetzt keine Zeit, antwortet Charlotte, woraufhin Nadia schimpfend das «Royal» verlässt. «Diese Grünen und Sozialdemokraten, die wissen doch gar nicht, was sie wollen», sagt sie. «Ich stehe hinter LFI, seit 45 Jahren bin ich Trotzkistin, für mich ist das alles ein Affentheater hier.» Trotz einiger weniger Konflikte steht am Ende des Abends eine Liste von Uhrzeiten, Treffpunkten und To-dos. Einig sind sich die Anwesenden darin, dass ihre Proteste vor Ort und nicht im Pariser Zentrum stattfinden sollen. Man erwartet dort heftige Zusammenstösse mit der Polizei.

Zu Recht: Am Dienstag verkündet Innenminister Bruno Retailleau, dass 80 000 Sicherheitskräfte mobilisiert werden sollen. Wie schon bei den Gelbwesten will der Staat Stärke zeigen. Kurz darauf ernennt Macron einen neuen Premierminister, Sébastien Lecornu, 39-jährig, Mitte-Rechts und der einzige Minister, der unter den letzten vier Premiers sein Amt behalten hat. Das ist Macron offenbar Qualifizierung genug. Kotz-Emojis in den Chatgruppen, grosse Zweifel bei den Expert:innen, die in den Nachrichtensendungen in Dauerschleife infrage stellen, dass Lecornu wirklich gelingen könnte, was Bayrou nicht schaffte.

Keine Zeit

Am Mittwoch ist das Aufgebot an Sicherheitskräften immens. In der Whatsapp-Gruppe der Aktivist:innen in Les Lilas tauscht man Namen von Anwält:innen aus, die im Fall von Verhaftungen kontaktiert werden sollen. Schon zu Redaktionsschluss der WOZ am Mittwochmittag ist von 200 Festnahmen die Rede, von landesweiten Zusammenstössen mit der Polizei.

Mehrere Tausend Aktivist:innen haben im ganzen Land Blockaden errichtet. In der Nähe von Rennes brennt auf der Autobahn ein Bus. In der Whatsapp-Gruppe tauschen sich Charlotte und die Demonstrant:innen weiter über ihre Strategie aus. Auf die Autobahn, die sie eigentlich hatten lahmlegen wollen, haben sie es nicht geschafft – mehr Polizei als Demonstrant:innen vor der Auffahrt. Dafür ist die Schule in Les Lilas blockiert, die Schüler:innen sind also dabei. Lokale Geschäfte fordern dazu auf, nicht mit Karte zu bezahlen, um so den Banken zu schaden.

Das kleine Café Royal wurde zur «Kommandozentrale» erklärt. Bei einigen hier scheint gerade ein neues Gefühl des Zusammenhalts zu entstehen – verbunden mit der Hoffnung, dass die Wut der Strasse Frankreich aus seiner Lähmung befreien kann. Währenddessen sagt Innenminister Retailleau im Fernsehen: «Mit einer Volksbewegung hat das nichts zu tun. Die Ultralinke hat durch den Einfluss von LFI die Bewegung vereinnahmt.» Aber die Demonstrant:innen von Les Lilas haben gar keine Zeit, ihm zuzuhören.