Regierungskrise in Frankreich: «Jetzt ist der Macronismus tot»

Nr. 43 –

Der Politikwissenschaftler Luc Rouban über die instabile Regierung in Frankreich, die riskanten Manöver der Linken und die Entfremdung der Menschen von den Parteien.

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Premierminister Sébastien Lecornu im Parlament
«Knapp davongekommen»: Premierminister Sébastien Lecornu stellt sich am 15. Oktober den Fragen des Parlaments.   Foto: Stefano Lorusso, Imago

WOZ: Luc Rouban, Frankreich erlebt gerade turbulente Zeiten. Seit Mitte Oktober ist die vierte Regierung seit einem Jahr im Amt. Vergangene Woche hat sie zwei Misstrauensvoten nur knapp überstanden. Ist auch ihr Ende schon absehbar?

Luc Rouban: Es stimmt, die aktuelle Regierung, die zweite unter Premierminister Sébastien Lecornu, ist sehr knapp davongekommen. Es fehlten nur achtzehn Stimmen zu ihrem Sturz. Sowohl unter den Politiker:innen als auch in der Bevölkerung gibt es aber einen Willen, wieder politische Stabilität zu finden. Jetzt stehen Parlamentsdebatten über die Verabschiedung des Budgets für das kommende Jahr an. Eine Lösung zu finden, wird nicht einfach, ist aber sicher möglich. Diese wird bestimmt nicht so radikal ausfallen wie das Vorhaben von Lecornus Vorgänger François Bayrou und weniger Einsparungen vorsehen.

WOZ: Im Amt halten konnte sich Lecornu vorerst nur dank der Unterstützung der Sozialist:innen, denen er im Gegenzug ein vielbeachtetes Zugeständnis gemacht hat: Er will Emmanuel Macrons unbeliebte Rentenreform bis zur nächsten Präsidentschaftswahl aussetzen.

Luc Rouban: Für die Sozialist:innen ist das ein Erfolg. Sie stellen nur 61 der 577 Abgeordneten in der Nationalversammlung – und müssen sich neben Macrons Lager auf der einen und der Linksaussenpartei La France insoumise (LFI) auf der anderen Seite behaupten. Die Aussetzung der Rentenreform stärkt ihre Position gegenüber LFI. Sie können der Protestpartei vorhalten, dass diese grosse Reden schwinge, die aber zu nichts führten, während sie selbst Ergebnisse für die Arbeitnehmenden erzielten.

Für die Regierung dagegen ist es eine Niederlage. Sie musste bei jener Reform nachgeben, die als das wichtigste politische Projekt von Macrons zweiter Amtszeit gesehen wird, die viel Widerstand auf der Strasse hervorgerufen und soziale Konflikte ausgelöst hat. Die Französ:innen länger arbeiten zu lassen, war ein zentraler Punkt von Macrons wirtschaftsliberalem Programm. Zwar ist die Reform nur ausgesetzt und nicht ganz vom Tisch, aber dennoch würde ich heute sagen: Der Macronismus ist tot.

Luc Rouban

Der Politologe Luc Rouban (67) lehrt an der Pariser Hochschule Sciences Po. Er forscht seit Jahren zum Vertrauen der Französ:innen in ihre politischen Vertreter:innen und zur Entwicklung der Demokratie in Frankreich und Europa.

 

 

Luc Roban
Foto: Hannah Assouline

WOZ: Die anderen linken Parteien, von La France insoumise über die Grünen bis zu den Kommunist:innen, haben zuletzt alle für den Sturz der Regierung gestimmt. Sie üben scharfe Kritik an Lecornus Sparplänen und bezeichnen sein Programm als inakzeptabel in sozial-, finanz- wie umweltpolitischer Hinsicht. Haben die Sozialist:innen mit ihrem Ausscheren im linken Lager nicht an Glaubwürdigkeit verloren?

Luc Rouban: Das Hauptproblem der Sozialist:innen liegt woanders: Sollte es doch noch zu einer Auflösung der Nationalversammlung und zu Neuwahlen kommen, sind sie stark von einem Zusammenschluss der linken Parteien abhängig, um in mehr Wahlkreisen gewinnen zu können. Bei den Parlamentswahlen 2024 hatte sich das linke Wahlbündnis Nouveau Front populaire unter der Führung von LFI organisiert, nun haben die Sozialist:innen etwas Autonomie gewonnen. Aber die Fronten zwischen ihnen und LFI haben sich verhärtet. Aus taktischer Sicht wäre es für die Parteien gut, miteinander auszukommen.

WOZ: Wie kommt das Vorgehen bei der Bevölkerung an?

Luc Rouban: Die Französ:innen sind im Allgemeinen mit den politischen Parteien sehr unzufrieden. Was wir im letzten Jahr erlebt haben, gleicht einer Seifenoper mit immer gleichen Episoden. Das ermüdet. Bei einer Befragung gaben jüngst nur rund zehn Prozent der Teilnehmenden an, den politischen Parteien zu vertrauen. Auch die Sozialist:innen haben im Politbetrieb, nicht aber in der Wahrnehmung der Bevölkerung punkten können.

WOZ: Selbst die Suspendierung der verhassten Rentenreform bringt der Partei keine Sympathien ein?

Luc Rouban: Bisher soll die Reform nur ausgesetzt werden. Für jene Französ:innen, die kurz vor der Pension stehen und nun früher in Rente gehen können, ist das sicher eine gewisse Genugtuung. Aber es gibt in der Bevölkerung viele, die fürchten, dass das Rentensystem in den nächsten Jahren ohnehin grundlegend überarbeitet werden wird – angesichts des demografischen Wandels und des Staatsdefizits.

WOZ: Seit Macron im Sommer 2024 die Nationalversammlung aufgelöst und Neuwahlen ausgerufen hat, ist das Parlament in Frankreich in drei Lager gespalten: die Linken, die Zentrist:innen und teils Konservativen um Macron sowie Marine Le Pens extreme Rechte.

Luc Rouban: Tatsächlich ist es komplizierter, es gibt keine Blöcke mehr. Der linke Block ist zersplittert, und rechts absorbiert der Rassemblement National (RN) einen grossen Teil der konservativen Wähler:innenschaft. In der Mitte gibt es nur mehr eine Art Allianz – und auch diese kriselt. Édouard Philippe etwa, Macrons früherer Regierungschef, hat kürzlich öffentlich den Rücktritt des Präsidenten gefordert. Das ist nicht zu unterschätzen.

WOZ: Bei derart unklaren Mehrheitsverhältnissen wäre die Bildung einer Koalition doch naheliegend. Warum fällt es in Frankreich so schwer, Kompromisse zu finden?

Luc Rouban: Das liegt an Frankreichs politischer Geschichte. Die Parteien haben ihre Identität sehr stark in Abgrenzung zueinander entwickelt, auf der Basis sehr unterschiedlicher Werte. Jede Partei verteidigt ihre politische Identität. Zugeständnisse würden bedeuten, diese zu verlieren. Hinzu kommt, dass Frankreich kein föderaler Staat ist wie die Schweiz oder Deutschland. Wichtige Entscheidungen werden auf nationaler Ebene getroffen. Das führt zu anderen Strategien.

WOZ: Strategien, bei denen alles auf die Präsidentschaftswahl ausgerichtet ist?

Luc Rouban: Ja. Aktuell wollen besonders die beiden Parteien am politischen Rand, der rechtsextreme Rassemblement National und die linke LFI, Macrons Rücktritt und vorgezogene Präsidentschaftswahlen erzwingen. Sie verfolgen eine rein machtpolitische Logik und spekulieren auf eine Stichwahl, in der sie gegeneinander antreten. Der Vorsitzende von LFI, Jean-Luc Mélenchon, rechnet damit, dass sich dann die gesamte Linke hinter ihm versammeln wird, Marine Le Pen erhofft sich dasselbe von der Rechten. Unterdessen versuchen die gemässigteren Parteien, Zeit zu gewinnen. Denn die Chance, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat ihres Lagers eine Präsidentschaftswahl gewinnen könnte, ist momentan gering.

WOZ: Eigentlich sollte die derzeit geltende Verfassung in Frankreich ja politische Instabilität verhindern. Präsident Charles de Gaulle liess sie 1958 ausarbeiten, um in der Nationalversammlung für klare Verhältnisse zu sorgen. Stösst das System an seine Grenzen?

Luc Rouban: Das Problem ist weniger die Verfassung als ihre Auslegung. Hätte Emmanuel Macron den Geist der Verfassung respektiert, dann hätte er nach der Parlamentswahl 2024 zurücktreten müssen. Seine Partei hatte schon bei den Europawahlen deutlich verloren, bei den darauf ausgerufenen Neuwahlen ebenso. Es war in de Gaulles Sinn, dass der Präsident zurücktritt, wenn er von den Wähler:innen abgelehnt wird. Die Entscheidung liegt aber nur bei ihm. Macron wollte nicht zurücktreten. Das führt zu einer gewissen Blockade, weil das System nicht dafür ausgelegt ist.

WOZ: Würde ein Rücktritt Macrons, wie ihn vor allem LFI fordert, die aktuelle Krise denn entschärfen?

Luc Rouban: Das kommt darauf an, wer gewählt würde. Derzeit sieht es danach aus, als könnte das jemand vom RN sein, das würde die Lage wohl kaum verbessern. Und auch dann wäre nicht sicher, ob diese Person eine Mehrheit in der Nationalversammlung erhielte. Die Chancen, dass sich LFI bei einer Präsidentschaftswahl durchsetzen würde, stehen eher schlecht. Die Partei spielt ein gefährliches Spiel, indem sie ständig auf Macrons Rücktritt pocht.

WOZ: Gross ist die Unzufriedenheit mit Macron jedenfalls auch in der Bevölkerung. Laut einer aktuellen Erhebung wünschen sich fast sechzig Prozent der Befragten seinen Rücktritt. Dass das ohnehin stark beschädigte Vertrauen der Französ:innen in ihre politischen Vertreter:innen unter dieser Krise leidet, haben Sie bereits angesprochen.

Luc Rouban: Ja, es gibt ein ausgeprägtes Misstrauen. Und was neu ist: Es interessieren sich auch immer weniger Französ:innen für die Politik. Dabei galt Frankreich stets als Land des politischen Engagements. Nun aber bringen sich die Menschen eher im Wirtschaftsbereich ein, in Unternehmen oder in Vereinen – in Bereichen, von denen sie den Eindruck haben, Dinge kontrollieren zu können.

WOZ: Wo liegen die Gründe für die Politikverdrossenheit?

Luc Rouban: Das geht über die aktuelle Krise und den Politbetrieb hinaus. Ein Faktor ist etwa die soziale Mobilität, die geringer ist als in anderen europäischen Ländern. Hinzu kommt, dass auch Menschen mit Hochschulabschluss mittlerweile grosse finanzielle Schwierigkeiten haben. Es ist schwieriger geworden, Erfolg zu haben, Diplome bringen weniger als früher. Bei manchen herrscht das Gefühl vor, dass die Regierung den Finanzmärkten und den grossen Privatunternehmen nicht gewachsen ist, dass die wahre Macht woanders liegt. Diese Auffassung gewinnt in Europa insgesamt an Fahrt. Auch die starke Zentralisierung fördert die Politikverdrossenheit. Es bräuchte eine Stärkung der politischen Kompetenzen auf lokaler Ebene, dort, wo die Politik nahe an der Lebensrealität der Menschen ist.