In mir die Wände (7) : Das schönste Spiel

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«Es läuft die 89. Spielminute, die Schweiz steht vor der ganz grossen Sensation! Abstoss bei Gnägi, Captain Bigoni lässt sich leicht zurückfallen, holt sich den Ball. Bigoni, Lapp, zurück zu Bigoni. Jetzt der Pass auf den Flügel; Buzimkic, links aussen läuft sich Gültekin frei, Buzimkic mit dem weiten Pass auf Gültekin. Gültekin, ja, er lässt den Verteidiger stehen, jetzt kommt die Flanke in die Mitte, Ibrahimi! Tooooooor! Ibrahimi! Es ist nicht zu fassen! Die Schweiz führt 2 : 0! Die Schweiz ist Weltmeister! Die Schweiz ist Weltmeister!»

Ich sitze am Küchentisch, ein Heft ist vor mir aufgeklappt, das Lineal mein imaginäres Mikrofon. Auf dem Papier habe ich das Spielfeld aufgemalt, darin ist die Aufstellung der Schweiz notiert, es sind die Nachnamen meiner Kollegen und mein eigener: Gnägi, Bigoni, Buzimkic, Lapp, Ibrahimi, Gültekin. Ich bin Spieler, Trainer und zugleich Beni Thurnheer, Kommentator dieses WM-Finals. Meine Freunde aus dem Fussballklub im Rheintal haben es tatsächlich geschafft und sind Fussballweltmeister geworden.

Die Schweiz war Anfang der neunziger Jahre ein Fussballzwerg. 1994 qualifizierte sich die Nationalmannschaft nach einer Ewigkeit wieder für eine WM-Endrunde. Die Namen klangen nach Ordnung und Schweiss: Hottiger, Studer, Sutter, Knup. Schon Chapuisat und Pascolo wirkten auf mich wie kleine Brüche in dieser Reihe. Und dann waren da Ciriaco Sforza und Kubilay Türkyılmaz. Ihre Namen hatten einen Klang, der für mich zugänglicher war. Auch wenn der Name Türkyılmaz – «ein Türke gibt niemals auf» – für mich als kurdisches Kind immer auch etwas Irritierendes hatte, war es doch Kubi, mit dem ich mich identifizieren konnte. Er gab mir ein Gefühl dafür, dass auch für mich ein Platz existieren musste.

Auf dem Fussballfeld fanden meine Emotionen ihren Raum – Freude, Wut, Enttäuschung, Stolz. Ich war nie der Beste mit dem Ball, aber kämpfen konnte ich. Das musste mir niemand zeigen. Auf dem Platz waren wir alle gleich. Verbunden durch das Spiel, durch die Freude und ein gemeinsames Ziel. Jeder von uns war ein Teil, gehörte dazu. Und es schien fast, als hätten wir viel mehr gemeinsam, als uns trennte.

Weltmeister ist in der Realität dann doch keiner von uns geworden. Einige haben es aber tatsächlich bis zur Schwelle des Profifussballs geschafft. Einer von ihnen war in den berüchtigten Wettskandal von 2009 verwickelt. Mario stammte aus einfachen Verhältnissen, er war der Sohn einer italienischen Gastarbeiterfamilie. Zwei Jahre nach dem Wettskandal ist er unter mysteriösen Umständen gestorben. Unser gemeinsamer Traum hatte ihn auf seinem Weg eingeholt.

Immerhin haben sich aber unsere Nationalmannschaften zu einem realitätsgetreuen Abbild der Migrationsgesellschaft Schweiz entwickelt. Jetzt sind Spieler:innen mit unterschiedlichsten Migrationsbiografien die Schlüsselfiguren: Sie riefen Gastarbeiter … und es kamen Captains!

In der Serie «In mir die Wände» blickt Uğur Gültekin (geboren 1984) zurück auf seine Kindheit und Jugend: auf die Flucht aus Kurdistan und das Grosswerden in der Schweiz, auf Ausgrenzung und Aneignung – und setzt diese persönlichen Erfahrungen in einen gesellschaftlichen Rahmen, der auch von der Schweiz der neunziger Jahre erzählt. Nächste Woche: Lost in Translation.