Kunst: Die Geister des Unrechts

Nr. 25 –

Ihr Stoff sind die Leerstellen kolonialer Streifzüge – doch die libanesische Künstlerin Dala Nasser thematisiert in der Kunsthalle Basel auch die Kluft zwischen freiem Warenverkehr und geschlossenen Grenzen für Menschen.

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Foto aus der Ausstellung: Dala Nassers Nachbau einer zerstörten ­byzantinischen Kirche im Libanon
Die Geschichte sucht uns immer wieder heim: Dala Nassers Nachbau einer zerstörten ­byzantinischen Kirche im Libanon. Foto: Philipp Hänger, Kunsthalle Basel

«Wie verhält es sich aber mit den Orten, wo die Objekte nicht mehr sind?» Diese Frage stellte die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy vor einigen Jahren im Rahmen einer Vorlesung am Collège de France in Paris. Sie sprach über erzwungene Verlagerungen von Kunst- und Kulturgütern, verursacht durch koloniale Herrschaften, durch die Gewalt und Asymmetrien der Geschichte. Was also passiert mit den Orten, wo diese Objekte nicht mehr sind? Dort, wo Verlust spürbar wird, das historische Unrecht als Lücke klafft? Diese Frage sollte immer wieder gestellt werden – und das wird sie zum Glück auch, aktuell etwa in der Kunsthalle Basel.

Für ihre Ausstellung hat die Künstlerin Dala Nasser die byzantinische Kirche Kabr Hiram in einem kleinen Dorf im Süden des Libanon nachgebaut. An einem Gerüst aus zusammengeschraubten Holzbalken hängen lange, rot-bräunliche, mit Pigment bearbeitete Stoffe. Sie stammen aus libanesischen Haushalten, waren mal Bett- oder Kissenbezüge. In den Ausstellungsräumen der Kunsthalle Basel wirken sie geisterhaft, bilden durchlässige Dächer und weiche Wände. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man weiss, dass die reale Kirche im Dorf Kana zerstört wurde.

Ergänzt werden diese Stoffe durch weitere Textilien, blau gefärbt mit weissen Mustern. Diese hängen ebenfalls vom Gerüst, sind auf dem Boden ausgelegt oder an den Wänden der Ausstellungsräume angebracht. Auf den Stoffen lassen sich Tier- und Pflanzenarten erahnen; grob angedeutet, mit unscharfen Umrissen. Auch diese Sujets wirken wie Geister, verweisen auf die Fauna und Flora von Kana, wie im Saaltext nachzulesen ist, auf die lokale Arbeit auf dem Feld. Auf diesen Stoffen hat die libanesische Künstlerin das Mosaik nachgebildet, das die koloniale Mission de Phénicie im 19. Jahrhundert aus der Kirche entfernt hatte. Und «entfernt» heisst hier: ausgegraben, herausgebrochen oder -gespitzt, knapp 4000 Kilometer wegtransportiert. Heute befindet sich das Mosaik im Louvre in Paris. Wegen Umbauten ist es im Moment dort nicht ausgestellt, sondern lagert im Depot. Ab 2027 soll das Mosaik wieder für die Öffentlichkeit zugänglich sein.

Soundscape des Kapitals

Doch wer ist eigentlich diese «Öffentlichkeit»? In der Gegenüberstellung von Ab- und Anwesenheit, von Verlust und musealer Akkumulation – materiell, kulturell, finanziell – klingen erneut die Worte von Bénédicte Savoy an: «Was sagen wir jenen, die nicht Teil dieser musealen Erzählung sind?», fragt sie in ihrer Vorlesung. «Wie wollen wir rechtfertigen, dass einige Zugang zum Kulturerbe der Menschheit haben und andere ausgeschlossen sind – sowohl physisch als auch wirtschaftlich?» Diese Frage spitzt sich in der Kunsthalle Basel durch eine Soundinstallation zu, die Dala Nasser in den Räumen des Louvre aufgenommen hat: Schritte sind zu hören, entferntes Stimmengewirr, die Soundscape kulturellen Kapitals.

Dala Nasser rückt in ihrer Ausstellung die Kehrseiten dieser Museumswelt in den Fokus: Sie gibt Verlust und Abwesenheit eine Gestalt, zeichnet die Bruchlinien nach, die durch die Gewalt der Geschichte verursacht wurden. Ein Beispiel dafür ist das Cyanotypie-Verfahren, mit dem Nasser das Mosaik nachgestellt hat. Die Stoffe wurden mit lichtempfindlicher Substanz bearbeitet und anschliessend mit Terrakottaziegeln belegt: Die Stellen, die nicht der Sonne ausgesetzt waren, verfärbten sich blau, die restlichen blieben weiss, «als Silhouette dessen, was abwesend ist», wie es in der Beschreibung heisst. Dass Nasser Stoff als Material gewählt hat, öffnet einen zusätzlichen poetischen Denkraum: Körperliche Arbeit und historische Ereignisse werden ins Material eingewoben, als stumme Zeugnisse gespeichert.

Heimsuchungen im Museum

Interessant ist ein weiterer Perspektivenwechsel, den Dala Nasser in der Ausstellung vornimmt: Sie stellt die erzwungenen Verlagerungen von Objekten den menschlichen Migrationsbewegungen gegenüber. Im selben Raum wie die Rekonstruktion der Kirche entfaltet eine Soundinstallation die Geräuschkulisse der Mittelmeerküste von Beirut und Gibraltar: das Raunen der Wellen, das entfernte Kreischen der Möwen. «Während Objekte frei zirkulieren dürfen, wird menschliche Mobilität eingeschränkt, reguliert und verweigert», heisst es dazu treffend. Auch für Enteignungen waren Grenzen nie geschlossen.

Mit ihrer Ausstellung macht Dala Nasser deutlich: Abwesenheit auf der einen Seite bedeutet Anwesenheit auf der anderen; der abgeschöpfte Mehrwert auf der einen resultiert in Akkumulation auf der anderen. Diesen Bruch sichtbar zu machen, ist ein politischer Akt des Widerstands gegen hegemoniale Narrative. Die museale Erzählung Europas ist geprägt von Aneignungs-, nicht von Verlustgeschichten.

Doch die Geister der Geschichte verschwinden nicht einfach, sondern suchen uns immer wieder heim – auch das klingt in der Ausstellung an. Der französische Philosoph Jacques Derrida hat dafür den Begriff der Hantologie geprägt, als Kofferwort aus «hanter» (heimsuchen) und «Ontologie». Und damit den Gedanken entwickelt, dass wir nicht nur von der Vergangenheit, sondern auch von einer verhinderten Zukunft heimgesucht werden können. Das ist umso unheimlicher, wenn wir eigentlich gar nicht an Gespenster glauben.

Die Ausstellung «Xíloma. MCCCLXXXVI» von Dala Nasser ist bis 10. August 2025 in der Kunsthalle Basel zu sehen. www.kunsthallebasel.ch