Documenta 12: Aufklärung im Flüsterton

Nr. 27 –

Die Weltkunstschau in Kassel ist ein eigenwilliges ästhetisches Ereignis geworden, ohne jeden Hang zum Spektakel.

Die Überraschung ist perfekt. Ausgerechnet der als Theoretiker mit wenig Ausstellungserfahrung verschriene Roger M. Buergel hat, zusammen mit seiner Frau und Mitkuratorin Ruth Noack, die Quadratur des Kreises geschafft, nämlich Politik und Ästhetik in einer Grossausstellung zu versöhnen - und das auf sehr eigenwillige Weise. Noch einmal eine als Oberlehrerseminar angelegte Documenta, so stöhnte das vereinte Feuilleton nach seiner Ernennung. Und noch kurz vor der Eröffnung der nach wie vor wichtigsten und grössten Kunstausstellung der Welt war immer wieder Skepsis zu spüren, ob dieses unbeschriebene Blatt die Herausforderung wirklich packen würde.

Subtile Konstellationen

Wie es Roger M. Buergel und Ruth Noack gepackt haben, ist allerdings bemerkenswert. Viele unbekannte KünstlerInnen haben sie eingeladen, darunter ganz selbstverständlich in der Mehrzahl Frauen. Politisch korrekt ist auch die Statistik ihrer geografischen Herkunft. Ebenso unangestrengt hat das Kuratorenpaar Positionen aus Afrika, Asien, Lateinamerika mit Kunst aus Europa und den USA zusammengemischt, lediglich ein Schwerpunkt auf Kunstschaffenden aus den Oststaaten fällt auf. Doch all diese erfreulichen Tatsachen machen natürlich längst keine gute Ausstellung aus. Dass die zwölfte Documenta ein Meisterwerk geworden ist, verdankt sie in erster Linie den höchst subtilen Konstellationen von Werken aus ganz unterschiedlichen Kontexten - sowie einem ausgeprägten Geschichtsbewusstsein, mit dem sich KuratorInnen zeitgenössischer Kunst normalerweise nicht herumschlagen.

Eine «Genealogie des Gegenwärtigen» zu entwerfen, ist Buergels Ansinnen, und immer wieder denkt er dabei auch an Kassel selbst, eine Stadt, die - vor allem wegen ihrer Rüstungsbetriebe - im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstört wurde. Dieser historische Sinn findet sich in einzelnen Beiträgen, etwa, wenn sie ein Ereignis oder eine Epoche schlicht dokumentieren. Viele Kunstwerke sind aber bereits in sich voller Bezüge zu ganz unterschiedlichen geografischen und geschichtlichen Orten und Fakten, sodass das, was die Ausstellung auf einer höheren Ebene versucht, sich bereits auf Werkebene entfaltet.

Als Leitfaden haben die KuratorInnen den BesucherInnen drei Fragen mit auf den Weg gegeben: Ist die Moderne unsere Antike? Was ist das blosse Leben? Was tun? In diesem weit gespannten, fragilen und doch tragfähigen Netz bewegt sich der Betrachter, die Betrachterin - und erlebt dabei immer wieder überraschende Einsichten, kleine Epiphanien, wie sie eigentlich nur die Kunst zu bieten hat.

Ein herausragendes Beispiel für das, was die Ausstellung als Ganzes anstrebt, ist der Beitrag der 1962 in Sarajevo geborenen Künstlerin Danica Dakic, die heute in Düsseldorf lebt. In ihrer Videoinstallation «El Dorado» lässt sie im Kasseler Tapetenmuseum, vor einer Panoramatapete, die imaginierte exotische Landschaften zeigt, Jugendliche auftreten, die in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Europa aus ihrer Heimat geflüchtet sind. Hier, vor diesem höchst artifiziellen Hintergrund, erzählen sie ihre Geschichte, die mit Ängsten und Hoffnungen verbunden ist und gleichzeitig von einem starken Lebenswillen zeugt. Begleitet wird das Video von einer Fotografie, die alle im Film einzeln auftretenden Jugendlichen zusammen zeigt, sowie von einer Toninstallation, in der die Künstlerin selbst über El Dorado, das verlorene Paradies, philosophiert, und die das im Flüsterton in den gesamten Ausstellungsraum trägt. Alle Leitfragen der Ausstellung klingen in dieser Arbeit an: die Kehrseite der Moderne, die Kriege, Kolonialismus und Migration hervorgebracht hat, das blosse, nackte Leben, das die Flüchtlingsexistenz prägt, sowie die grosse Frage nach dem «Was tun?», die diese Jugendlichen an- und weitertreibt.

Vielleicht zeigt sich hier, in diesem kleinsten aller vier Ausstellungsorte im Schloss Wilhelmshöhe hoch über der Stadt, wie Buergel/Noack ihre Ausstellung angelegt haben. Mitten in die hervorragende Gemäldegalerie des Schlosses haben die KuratorInnen im zweiten Stock eine Art Schneise mit Gegenwartskunst gelegt. Den Auftakt bildet ein Video des brasilianisch-schweizerischen Künstlerduos Mauricio Dias und Walter Riedweg, das, ausgehend von einem sehr rassistisch gefärbten Reisebericht eines Kasseler Bürgers aus dem 16. Jahrhundert, die darin enthaltenden Illustrationen wilder Tänze von FavelabewohnerInnen nachstellen lässt. Gleich hinter diesem eher grellen Beitrag tritt man in einen stark abgedunkelten, nur punktuell beleuchteten Saal, wo die sehr persönlich gehaltenen Tagebuchnotate von Shooshie Sulaiman aus Kuala Lumpur auf die zarten, gestischen Zeichnungen von Mira Schendel treffen, die im nationalsozialistischen Deutschland aufwuchs und 1949 nach Brasilien emigrierte.

«Migration der Formen»

Häufiger als in den anderen Ausstellungsorten sind hier auch frühere Werke aus anderen Kulturen eingebettet, so zum Beispiel ein Blatt aus den Berliner Saray-Alben, einer Sammlung von Zeichnungen und Miniaturen persischen, chinesischen, osmanischen oder europäischen Ursprungs, die bereits im 18. Jahrhundert aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst worden sind. Auf der ausgestellten persischen Miniatur lassen sich überdies chinesische Einflüsse ausmachen. Hier wird deutlich spürbar, was Buergel mit seiner Umschreibung «Migration der Formen» gemeint haben könnte, die offenbar sowohl eine reine, von jeglichen sozialen und kulturellen Kontexten gelöste Schönheit bedeuten kann als auch eine Aneignung von Formen, hinter denen die reale Bewegung von Menschen von einer Kultur in die andere steht. Vielfach überlagern sich diese zwei Bedeutungsebenen - und genau darin liegt die Brisanz und Eleganz des ganzen Unternehmens.

Ein starker Bezug zur ersten Documenta, die 1955 im immer noch kriegsversehrten Kassel als Begleitausstellung zur Bundesgartenschau ins Leben gerufen wurde, prägt die aktuelle Schau. Das damalige Anliegen war es, die deutsche Öffentlichkeit nach den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur und kulturellen Isolation mit der internationalen Moderne sowie mit der gescheiterten Aufklärung zu konfrontieren. Buergel /Noack nehmen diesen Faden auf, diagnostizieren auch heute noch eine «Moderne, die in Trümmern zu liegen und vollkommen kompromittiert» zu sein scheint, sowohl «durch die gnadenlos einseitige Umsetzung ihrer universalen Forderungen (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) als auch durch die simple Tatsache, dass Moderne und Kolonialismus historisch Hand in Hand gehen».

Immer wieder trifft man in der Ausstellung auf explizit politische Werke, die aktuelle gesellschaftliche Probleme und Widersprüche ins Visier nehmen. Wenn beispielsweise Romuald Hazoumé aus Benin vor eine riesige Ansicht eines palmengesäumten Fischerstrandes ein aus Benzinkanistern gebautes Boot stellt, so thematisiert er damit nicht nur die Tragödie von afrikanischen Flüchtlingen, die auf selbst gebauten Booten das Mittelmeer oder den Atlantik zu überqueren versuchen und dabei oft ihr Leben verlieren, sondern er verweist auch auf den umgekehrten Strom von zivilisationsmüden TouristInnen, die an exotischen Stränden Erholung suchen und ihre Träume vom einfachen Leben in klimatisierten Fünfsternehotels zu verwirklichen suchen.

Scharfe Kritik an der US-amerikanischen Rechtfertigung für den Irakkrieg übt der «Phantom Truck» des spanischen Künstlers Iñigo Manglano-Ovalle: Dunkelheit umhüllt sein in Originalgrösse nachgebautes mobiles Labor zur Herstellung biologischer Waffen, wie es die US-AmerikanerInnen im Irak vermuteten. Inzwischen hat sich längst herausgestellt, dass diese mobilen Labors, sofern es sie überhaupt gab, nicht zur Waffenproduktion geeignet sind. Die Thematik des «blossen Lebens», der nackten Existenz, scheint in den Fotografien des Südafrikaners David Goldblatt aus den achtziger Jahren auf, die die Busfahrten von völlig erschöpften ArbeiterInnen dokumentieren. Viele von ihnen waren gezwungen, jeden Morgen und Abend eine vier Stunden dauernde Fahrt von ihrem Homeland KwaNdebele zum Arbeitsort auf sich zu nehmen; morgens um zwei Uhr ging es los, um rechtzeitig bei der Arbeit zu sein, abends um zehn waren sie endlich wieder zu Hause.

Stimmengewirr

Es sind solch starke, konfrontative Arbeiten, die die Documenta 12 davor bewahren, dem blossen Formalismus oder gar Ästhetizismus anheimzufallen. Denn wer so entschieden auf Inszenierung setzt, mit farbig bemalten Wänden und Vorhängen die Ausstellungsräume in ein bürgerliches Wohnzimmer verwandelt und formale Verwandtschaften in den Vordergrund stellt, läuft stets Gefahr, sich im schönen Schein zu verfangen und die Tiefenebene der Werke auszuschalten.

Es gibt durchaus Momente in den verschiedenen Ausstellungsräumen, wo diese Tendenz zur Oberfläche, zur Seichtheit auch, Oberhand gewinnt. So zum Beispiel in der Documenta-Halle, in der die deutsche Künstlerin Cosima von Bonin ihren grossen Auftritt hat. Wie auf einer Bühne führt sie ihre vielteilige Installation vor: Da gibt es surreale, auf niedrigen weissen Sockeln sitzende Stofftiere zu sehen, grosse Sockelskulpturen, in die sie Arbeiten anderer KünstlerInnen schmuggelt, bunt bemalte Imbissbuden, Stoffbilder mit Rorschachtest - ein Sammelsurium von disparaten Objekten und Bezügen, die sich gegenseitig lahmlegen. Doch solche Leerstellen bleiben rar, fast immer gelingt es Buergel/Noack in ihren Gegenüberstellungen ein Stimmengewirr zu entfachen, in dem die einzelne Stimme, mal lauter, mal leiser, vernehmbar bleibt und sich gleichzeitig erhellende Dialoge entwickeln.

Auf die Frage «Was tun?» wird man bei dieser Documenta keine Antwort kriegen. Doch einer Seh- und Lebensschule gleicht sie allemal, einer, die nicht mit dem Zeigefinger daherkommt, sondern der Betrachterin viel Freiraum lässt, ihre eigene Erzählung zu entwerfen.

DOCUMENTA 12. Kassel. Bis 23. September. Täglich 10 bis 20 Uhr. Audioguides empfehlenswert. Katalog 20 Euro. www.documenta.de

Skulptur Projekte Münster 07

Wer auf der Suche nach dem nächsten Kunstwerk, mit Regenschirm und Stadtplan bewaffnet, durch die nassen Strassen und Wiesen Münsters stolpert, fühlt sich mitunter etwas idiotisch. Oder um Jahrzehnte zurückversetzt, als es noch ungewohnt war, an der Skulpturenausstellung in Biel oder eben in Münster die mehr oder weniger versteckten Eingriffe im Stadtraum aufzuspüren. Hat Kunst im öffentlichen Raum, wie sie offiziell heisst, ihre besten Zeiten hinter sich? Bei der grossen Öffentlichkeit waren sie ja nie sehr beliebt, diese Verschönerungen oder Verstörungen in Stadt und Land.

Nur alle zehn Jahre finden die «Skulptur Projekte Münster» statt, heuer zum dritten Mal - und noch immer ist derselbe Mann, der die Ausstellung 1977 initiierte, der 64-jährige Kaspar König, verantwortlich. Auch wenn er diesmal zwei jüngere Kuratorinnen beigezogen hat, am Konzept der Schau hat sich eigentlich nichts geändert. Von einem Konzept kann man zwar eigentlich nicht sprechen, denn es gibt hier weder einen thematischen Aufhänger noch sonst irgendeinen übergreifenden Gedanken.

Eingeladen werden «Künstler aus aller Welt» (hier vor allem in der männlichen Form und mehrheitlich aus dem Westen), sich irgendwie öffentlich zu artikulieren. Und das tun sie dann auch, auf ganz unterschiedliche Weise. Da gibt es zum Beispiel eine aus halbierten Surfbrettern gezimmerte Blume, die die rekonstruierten Fassaden am Prinzipialmarkt verschönert. Dass sich im Blütenkelch dieser doch sehr bieder anmutenden Skulptur ein Monitor und Lautsprecher befinden, die Münsteraner Geschichten vermitteln, nehmen wohl die wenigsten BetrachterInnen war.

Um etliches bissiger ist der Kommentar von Andreas Siekmann zum zunehmend privatisierten öffentlichen Raum. Er hat einige der uns so bekannten Bären, Löwen oder anderen Viecher, die in den letzten Jahren auch in Deutschland rund 600 Städte heimgesucht haben, geschreddert und zu einer kugelförmigen Skulptur geformt, die nun vor der schönen Barockfassade des Erbdrostenhofes steht. Begleitet wird dieser «Pferdeapfel» von einem blau bemalten Container, auf dem die Geschichte dieser Art von Stadtmarketing aufgezeichnet wird. Die zweifelhafte Rolle der Pionierin kommt dabei der Stadt Zürich zu, die 1986 mit den Löwen die Plage ins Rollen brachte.

An die Geschichte der «Skulptur Projekte» erinnert die «Ausstellung» von Dominique Gonzalez-Förster, die auf einer Wiese all jene Skulpturen im Miniaturformat aufmarschieren lässt, die in der Stadt als «Abfall» der Ausstellung zurückgeblieben sind. Glücklicherweise wird die aktuelle Ausstellung keine solchen dauerhaften Erinnerungen im mit öffentlichen Skulpturen bereits übermöblierten Münster hinterlassen. Vielleicht muten deshalb jene Arbeiten am stärksten an, die sich gar nicht im Aussenraum manifestieren, sondern diesen mit filmischen Reflexionen begleiten, etwa «Von Gegenüber» von Clemens von Wedemeyer, der im ausgedienten Kino Metropol kleine Beobachtungen wiedergibt, die sich in und um den Bahnhof abgespielt haben.

«SKULPTUR PROJEKTE MÜNSTER 07». Bis 30. September. www.skulptur-projekte.de

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