Durch den Monat mit Dimitri Grünig (Teil 3): Was war mit dieser Schulhausdusche?
Seine Recherche im evangelikalen Umfeld hat bei Dimitri Grünig ein ganz neues Interesse an Religion geweckt. Das eigene Coming-out war auch ohne religiöse Prägung nicht einfach.

WOZ: Dimitri Grünig, Sie haben für Ihr Buch queere Menschen interviewt, die im evangelikalen Umfeld versuchten, «geheilt» zu werden. Haben diese Menschen den Glauben hinter sich gelassen?
Dimitri Grünig: Nein, das Spannende ist: Die meisten konnten ihn behalten. Roland Weber, der für das Buch sehr wichtig war und auch im Vorwort vorkommt, hat das deutlich gesagt: Er lasse sich seinen Glauben nicht nehmen. Er musste ihn sich einfach neu aneignen. Das finde ich stark. Auch sehr versöhnlich.
WOZ: Das muss viel Arbeit sein – ein neues Gottesbild zu finden, wenn man von einem homophoben Gott ausging.
Dimitri Grünig: Ja. Das fasziniert mich. Ich habe die Arbeit an meinem Buch mit einer ziemlich undifferenziert religionskritischen Haltung begonnen. Heute bin ich immer noch durch und durch atheistisch, aber ich habe den Wert von Religion erkannt. Dieses unglaubliche Potenzial, Geschichten zu erzählen. Das hat eine Qualität, die ich erst jetzt schätzen gelernt habe. Egal wie kritisch ich auf Religion schaue – ich lebe doch in einer Gesellschaft, die stark von Religion geprägt ist. Ich bin auch ein Produkt davon. Und ich will auch daran teilhaben.
WOZ: Wie leben Sie das aus?
Dimitri Grünig: Für die Recherche wollte ich genauer wissen, was in der Bibel steht. Das Ding ist schon gewaltig, nur schon die sprachliche Qualität ist eine Wucht. Menschen sind fähig, aus ihrer Lebensrealität Geschichten zu machen und sie immer wieder als Gleichnis für aktuelle Umstände heranzuziehen. Das finde ich unglaublich schön – solange es nicht dogmatisch wird. Diese Rückbesinnung: Was will mir dieser Text genau sagen? Wie kann ich ihn auf das Heutige adaptieren? Dieses Schriftstück ist dazu da, immer wieder gemeinsam zu verhandeln: Wie schauen wir auf die Welt? Wie bewerten wir ethische Fragen?
WOZ: Haben Sie schon einmal in einer Kirche über Ihr Buch gesprochen?
Dimitri Grünig: Ja, in der evangelisch-methodistischen Regenbogenkirche in Zürich Wollishofen. Dort war ich auch schon für die Recherche. Es war schön, mit dem fertigen Buch zurückzukommen.
WOZ: Was ist anders in der Regenbogenkirche?
Dimitri Grünig: Im Prinzip nichts. Da hängt einfach eine Regenbogenfahne, und viele Besuchende sind queer. Aber es findet ein Gottesdienst statt wie woanders auch. Man singt zusammen, behandelt ein Thema anhand von Bibelstellen …
WOZ: Welche Reaktionen gibt es auf Ihr Buch?
Dimitri Grünig: Ein paar Leute, die ich aus dem Berner Oberland kenne und die freikirchlich aufgewachsen sind, kamen an meine Lesungen. Sie hatten eine Abrechnung mit Religion und Freikirchen erwartet und waren positiv überrascht. Jemand sagte: «Es hat mich berührt, dass du gläubige Menschen nicht als doof darstellst, ihnen ihren Glauben lässt.» Genau darum ging es mir auch. Negative Kritik am Buch kam meist aus queeren Kreisen: Ich ginge zu freundlich mit Religion und Kirchen um; das seien Institutionen, die man kritisieren müsse – was ich ja auch tue. Aber mein Buch ist kein Manifest, keine Kampfschrift, es ist eine künstlerische Arbeit, die Widersprüche aufzeigen will. Spannend finde ich, dass die Landeskirchen dafür offen sind. Das katholische «Pfarrblatt» und «ref.ch» haben positiv berichtet.
WOZ: Sie haben für Ihr Buch auch Orte gezeichnet, die mit persönlichen Erinnerungen verbunden sind: die Primarschule Goldiwil, den Spielplatz, die Dusche in der Turnhalle – darunter die Bemerkung: «Es riecht immer noch genau gleich.» Mit welchen Erinnerungen ist diese Dusche verbunden?
Dimitri Grünig: Mit Angst. Ich will meine Erfahrungen nicht dramatisieren, ich bin ganz gut weggekommen, aber daran erinnere ich mich genau: Ich bin elf oder zwölf und merke, ich bin anders und will das nicht. Ich studiere die Unterwäschesektion der Kataloge, die mit der Post kommen: Interessieren mich die Frauen, oder – Shit – regt sich doch bei den Typen mehr? Das darf doch nicht sein, hoffentlich ist es nur eine Phase …
WOZ: Kannten Sie damals queere Menschen?
Dimitri Grünig: Ja, der Bruder meiner Mutter ist schwul, und irgendwann hat sich ihre Schwester ebenfalls geoutet. Mit meinem Onkel hatte ich es super, er kam jedes Jahr eine Woche zu uns zu Besuch. Er ist auch sehr interessiert an Kultur, hat mir die griechisch-römische Antike nähergebracht. Ich hatte also durchaus Vorbilder.
WOZ: Und trotzdem Angst?
Dimitri Grünig: Ja, ich dachte: Bitte nicht das auch noch, bitte nicht jetzt. Ich gehörte nicht zu den coolen Kindern, war etwas übergewichtig, im Turnen immer der Letzte, der ins Team gewählt wurde. Auf dem Schulhof stand ich am Rand und zeichnete. Pubertät ist eh scheisse, und Kinder sind brutal; sobald du aus der Reihe tanzt, bist du ein gefundenes Fressen. Es reicht ja ein starker Rüpel in der Klasse, der ständig homophobe Parolen verbreitet. Ich wusste auch, dass das Outing für meinen Onkel nicht einfach gewesen war. Er ging nicht zufällig schon mit sechzehn nach Neuchâtel, später nach Arosa und lebte nie mehr im Berner Oberland.
Dimitri Grünig (29) ist Zeichner in Bern. Sein Buch «Aber schwul bin ich immer noch» ist 2024 in der Edition Clandestin erschienen.