Durch den Monat mit Dimitri Grünig (Teil 2): Wird die Welt zum Bild, wenn Sie zeichnen?
Für sein Buch hat Dimitri Grünig viel im Berner Oberland gezeichnet. Er mag es, sich dabei Wind und Wetter auszusetzen – und dass die Arbeit mit dem Bleistift Zeit braucht.

WOZ: Dimitri Grünig, wieso zeichnen Sie gern?
Dimitri Grünig: Ich war an einer Vorlesung beim Winterthurer Fotografen Christian Schwager, und jemand fragte ihn: «Warum fotografierst du?» Er sagte: «Damit ich eine Legitimation, eine Berechtigung habe, Dinge anzuschauen. An einem Ort zu sein.» Das trifft es für mich perfekt. Wenn du anfängst zu zeichnen, ist zuerst alles gleich wichtig: die Struktur des Grases, der Himmel … was immer sonst noch da ist. Dann fängst du an zu entscheiden: Wo richtest du den Fokus drauf, was lässt du weg?
Im Moment, wo Sie anfangen zu zeichnen, wird die Welt zum Bild?
Genau. Es ist ein fast schon spiritueller Akt, eine bestimmte Zeit lang Dinge anzuschauen. Das würde ich nicht machen, wenn ich nicht zeichnen würde. Beim Zeichnen finde ich etwas heraus über die Dinge. Manchmal mehr im technischen Sinn: Ich zeichne einen Bus und verstehe dadurch besser, wie er funktioniert. Aber oft auch: Was ist das für eine Struktur, wie sieht Gras genau aus? Dafür brauche ich Zeit – darum kann ich nicht fotografieren. Es geht mir zu schnell. Wenn ich eine Dreiviertelstunde lang eine Panzersperre zeichne, habe ich Raum, darüber nachzudenken: Was bedeutet das jetzt genau? Ausser dass es Betonblöcke aus den Vierzigern sind?
Die meisten Illustrationen in Ihrem Buch «Aber schwul bin ich immer noch» zeigen das Berner Oberland, wo Sie aufgewachsen sind.
Ich begann, Interviews für das Buch zu führen, und dadurch kam ich wieder nah an meinen Heimatort ran. Und weil ich sowieso immer am Zeichnen bin, fing ich einfach mal an, noch ohne genauen Plan. Natürlich hat sich durch die Interviews auch mein Blick verändert. Ich habe draussen gezeichnet; dafür ist Bleistift auch einfach sehr gäbig. So entstanden die Bilder dieser vermeintlich heilen, postkartigen Welt. Es hat etwas Gmögiges, diese Bildli mit ihren Bergen und Hüsli …
Gmögig? Ich finde die Bilder sehr ästhetisch, aber auch sehr nüchtern, jedenfalls nicht idyllisch.
Ja, wenn du ein bisschen daran schiebst, ist diese Welt schon nicht mehr so heil. Und ich hoffe auch, dass sie nicht mehr so bleistiftgrau und konservativ ist. Aber diese Hoffnung erfüllt sich nicht immer.
Es hat keine Menschen auf den Bildern.
Das Oberland ist ja oft auch sehr menschenleer. Du siehst fast niemanden, ausser ein paar Leute, die wandern. Ich wollte zuerst auch Bilder von Menschen ins Buch nehmen, aber ich habe dann gemerkt: Es stimmt nicht.
Haben Sie die Interviewten gezeichnet?
Ja, während der Gespräche. Aber es passte einfach nicht. Es ist so eine unglaublich einsame Geschichte, der Protagonist wird immer wieder auf sich zurückgeworfen. Es gibt ja niemanden, mit dem er reden kann. Ausser mit sich selber und Gott. Und die Landschaft gibt ihm auch keine Antworten – da kommt ein Berg, und nach dem nächsten Tal kommt wieder ein Berg, und dann kommt der Schulhof … Ich stelle mir vor, wie er herumfährt und die Gedanken kreisen: Bin ich wirklich schlecht? Ist das Schwulsein wirklich die Bürde, die ich tragen muss, und warum?
Sind Sie zum Zeichnen herumgefahren?
Ja, ich hatte ein paar Orte im Kopf. Irgendwann bekommst du einen Blick für Metaphern.
Wie die Getreidesilos an den Bahnhöfen?
Ja, zum Beispiel. Illustration kann unglaublich einsam sein – man ist sehr viel allein im Atelier. Ich hatte das Bedürfnis – gleich wie bei den Interviews –, etwas rauszufinden, rauszugehen. Es hat auch einen Einfluss auf die Zeichnung, ob es 35 Grad warm ist und der Bleistift fast schmilzt oder ob deine Hände vor Kälte zittern. Das erzählt auch etwas von einem Ort. Für mich ist es eine Art von Ehrlichkeit. Ich möchte mich dem aussetzen. Wenn ich jemanden interviewe, versuche ich ja auch, nah an die Person ranzukommen.
Haben Sie beim Zeichnen auch zufällig Leute getroffen?
Ja, zum Beispiel einen Bauern, der dachte, ich sei vom Veterinäramt, und mir eine Stunde lang erklärte, wie sein Brüetsch das Bschüttloch letztes Jahr nach den neusten Umweltstandards saniert hat. Dabei wollte ich doch nur sein Schöpfli abzeichnen … Solche Begegnungen liebe ich. Ich mache jetzt Interviews für einen Animationsfilm, die darauf basieren, dass ich irgendwohin gehe, dort zeichne und eine Reaktion provoziere. Ich bleibe einfach so lange an einem Ort, bis jemand fragt: «He, was machst du da?» So versuche ich, Raum zu schaffen, damit Menschen von sich zu erzählen beginnen, ohne dass ich viel tun muss.
Dimitri Grünig (29) ist in Goldiwil bei Thun aufgewachsen, hat in Luzern Illustration studiert und arbeitet als Zeichner in Bern. Sein Buch «Aber schwul bin ich immer noch» handelt von Erfahrungen Homosexueller im evangelikalen Milieu. Es ist 2024 in der Edition Clandestin erschienen – mit einem braunen Plastikeinband im Stil einer Reisebibel. 2024 wurde Grünig mit dem Stipendium «Weiterschreiben» der Stadt Bern und dem Kulturförderpreis der Stadt Thun ausgezeichnet.