Durch den Monat mit Dimitri Grünig (Teil 1): Gibt es immer noch Versuche, Schwule zu «heilen»?
In seinem Buch geht Dimitri Grünig Biografien von Homosexuellen im evangelikalen Milieu nach. Starre religiöse Weltbilder hat er selbst schon unfreiwillig kennengelernt – in der Primarschule.
WOZ: Dimitri Grünig, haben Sie Weihnachten gefeiert?
Dimitri Grünig: Ich habe mit der Familie Raclette gegessen. Aber ohne religiösen Überbau. Eine meiner beiden Grossmütter war an einem Weihnachtsgottesdienst. In meiner Familie geht aber sonst kaum jemand regelmässig in Gottesdienste. Ich denke, meine Grossmütter leben auf ihre eigene, persönliche Art ihre Spiritualität.
Sie haben letztes Jahr das Buch «Aber schwul bin ich immer noch» veröffentlicht: in Ich-Form, kombiniert mit Zeichnungen von Berner Oberländer Landschaften. Es handelt von einem Mann, der versucht, sich in evangelikalen Kreisen von seiner Homosexualität zu «heilen». Was war der Anstoss?
Eine innere Wut, dass es das immer noch gibt. Ich habe vor vier Jahren mit der Recherche angefangen, da war das Thema in den Medien, weil Deutschland und Frankreich Konversionstherapien verboten. Ich wusste, dass ein schwuler Freund meines Vaters betroffen gewesen war, einen regelrechten Exorzismus hatte durchmachen müssen. Aber mir war vor der Recherche nicht bewusst, in welchem Ausmass solche «Therapien» immer noch stattfinden.
Hatten Sie selbst Kontakt zum evangelikalen Milieu?
Mein eigenes Outing fand zum Glück nicht in einem religiösen Umfeld statt. Aber in Goldiwil bei Thun, wo ich aufgewachsen bin, ist das freikirchliche Mindset stark spürbar. Eine Lehrperson hat uns in der fünften Klasse verboten, über «Harry Potter» zu reden – das passte ihr wohl nicht ins Weltbild. Wir mussten im regulären Religionsunterricht auch beten, obwohl das nicht vorgesehen ist.
Waren keine Kinder anderer Religionen in der Klasse?
Nein. Ich war einer der wenigen, die sehr religionskritisch aufwuchsen. Als ich in der vierten oder fünften Klasse kritische Fragen zu Gott und Religion stellte, führte das immer zu extremen Diskussionen. Viele Kinder sprachen ihren Eltern nach: Wenn du nicht glaubst, kommst du in die Hölle.
Ist Ihre Familie im Dorf «einheimisch»?
Ja und nein … Die Eltern meiner Mutter sind Anfang der Sechziger nach Goldiwil gezogen. Und meine Eltern haben dann in den Neunzigern das Elternhaus meiner Mutter übernommen.
Wie sind Sie vorgegangen bei der Recherche für Ihr Buch?
Ich begann bei meiner Tante, weil sie in Thun queere Gruppen kennt. Irgendwann stiess ich auf den Verein Zwischenraum, der queere Christ:innen mit vorwiegend freikirchlichem, evangelikalem Hintergrund vernetzt. Ich habe viele Interviews geführt mit Menschen ganz verschiedenen Alters. Die Recherche bildet eine Realität der letzten Jahrzehnte ab. Ich habe mich auch in die Literatur vertieft, die den «Therapien» zugrunde liegt – ein gutes Rezept, um schlechte Laune zu bekommen. Zum Teil sind es Psychologieversatzstücke aus dem frühen 20. Jahrhundert. Auch von Sigmund Freud, der ja ziemlich abstruse Theorien hatte, wie Homosexualität zustande kommt. Es gibt auch ein Handbuch mit Übungen und Fragen. Das Ganze versucht zu wirken, als wäre es eine seriöse Sache.
Wollten die Interviewten anonym bleiben?
Nicht alle, aber einige schon – manche sind auch nicht geoutet. So kam ich auf die Idee mit dem fiktiven Protagonisten. Aber etwa die Hälfte des Textes im Buch stammt direkt aus Interviews. Ich komme ja vom Zeichnen her, Schreiben ist für mich recht abstrakt. Ich merkte: Stärker als die direkten Zitate kann der Text fast nicht sein. Ich finde sie sehr berührend. Mir war wichtig, dass das Buch diese Qualität behält, ohne dass Personen erkennbar sind.
Was ich mich beim Lesen gefragt habe: Wo sind die Lesben? Sind sie auch von solchen «Therapien» betroffen?
Ja. In diesem evangelikalen Umfeld ist alles suspekt, was sich nicht in eine binäre, heteronormative Mann-Frau-Family-Welt einordnen lässt. Ich habe Interviews mit Schwulen und mit Lesben geführt, aber entschieden, dass die Figur nah bei mir sein muss. Ich muss sie zu mir holen, denn zumindest auf der Bildebene erzählt das Buch doch sehr viel von mir. Von meinem spezifischen Blick.
Sind die «Therapien» heute in der Schweiz eigentlich verboten?
In einigen Kantonen. Eine einheitliche nationale Regelung gibt es noch nicht – ein Vorstoss dazu ist im Parlament hängig.
Finden sie weiterhin statt?
Solche Angebote laufen oft unter einem Deckmantel, unter Begriffen wie «problembehaftete Sexualität». Auch früher wurde nicht offen dafür geworben. Neben der institutionalisierten Form der Konversions-«Therapie», die sich von den USA aus weltweit verbreitet hat, gibt es unauffälligere Formen, etwa Seelsorge mit einer bestimmten Stossrichtung. Auch ein nationales Verbot wird wohl nicht dazu führen, dass solche Angebote verschwinden. Dennoch wäre es ein wichtiges Zeichen.
Dimitri Grünig (29) ist Zeichner in Bern. Sein Buch «Aber schwul bin ich immer noch» ist in der Edition Clandestin erschienen. Am 15. Januar findet im Berner Kulturlokal Ono eine Lesung und Diashow zum Buch statt.