Bündner Regionalkrimis: Ermittlungen in der Gletscherspalte
Verbrechen vor der eigenen Haustür: Regionalkrimis sind ein Geschäftsmodell. Besonders florieren sie in den touristischen Kulissen des Bündner Alpenlands.
Leichen säumen Hinter- und Vorderrhein, türmen sich im Engadin und im Landwassertal auf. 120 Kriminalromane in und über Graubünden sind in den vergangenen zwanzig Jahren publiziert worden. Das übertrifft womöglich Venedig als Handlungsort. Der Kulturwissenschaftler Thomas Barfuss hat darüber eine erhellende und gut lesbare Studie geschrieben.
Als Genre, sagt Barfuss, bietet der Krimi die Möglichkeit einer «globalen Regionalliteratur»: Er ist eine Hohlform, ein Container, der mit verschiedenem Inhalt gefüllt werden kann, wobei gewisse «Marker» bedient werden, vor allem landschaftlicher, aber etwa auch kulinarischer Natur, die Wiedererkennbarkeit gewährleisten.
Sentimentaler Voyeurismus
In seinem Buch rekonstruiert Barfuss vorgängig die Geschichte des Kriminalromans von der Räubergeschichte über das Whodunnit zum realistischen Grossstadtkrimi und den Serienheld:innen. Ein «Bündner» Krimi oder zumindest einer, der in Graubünden handelt, betritt in der Zwischenkriegszeit die Bühne. Barfuss hat einige erstaunliche Entdeckungen gemacht, darunter etwa ein Roman des Holländers Jakob van Schevichaven von 1920 oder des Deutschen Paul Altheer von 1926. Später folgte dann Ulrich Bechers «Murmeljagd» (1969) und 1975 der erste Graubündenkrimi einer Autorin, Katharina Hess.
Der Regionalkrimi im engeren Sinn freilich blüht erst ab den neunziger Jahren auf. Der Reiz des Exotischen wird von der Exotik des Nahen abgelöst. Lokalkolorit, Zeitkolorit sind gefragt, als anheimelnde Rückversicherung oder sentimentaler Voyeurismus. Noch der frappante Erfolg der SRF-Serie «Tschugger» zehrt von Letzterem, angeblich ironisch überformt.
Der Siegeszug entspringt aber auch einem neuen Geschäftsmodell im Verlagswesen. Im deutschsprachigen Raum haben sich drei, vier Verlage auf das neue Genre konzentriert und bieten für jede Region eigene Krimis an. Dabei liefern sie Vorgaben, etwa zum Titel oder zum Titelbild, selbst zu einzelnen Figuren. Ja, es gibt unverblümte «Auftragskrimis», von Hotels oder Tourismusdestinationen in Auftrag gegeben. In der Schweiz ist das Phänomen nirgendwo stärker als in Graubünden, wie Barfuss belegt. Nachdem zu Beginn noch etliche Krimis von Quereinsteiger:innen, sagen wir: pensionierten Lehrer:innen geschrieben wurden, bedient mittlerweile ein halbes Dutzend Autor:innen das Genre professionell, indem sie zwei, drei Krimis pro Jahr als «Kooperationsprodukt» zwischen Verlag und Schreibenden produzieren.
Barfuss hat mit einigen längere Interviews geführt. Dabei kommt eine Ambivalenz zum Vorschein. Einerseits wird das Krimischreiben pragmatisch als Gelderwerb anerkannt, der Regionalkrimi zugleich als eigenständiges Genre verteidigt; andererseits dringt doch der Wunsch durch, sich – wieder oder endlich – «richtiger» Literatur zuwenden zu können.
Seit etlicher Zeit ist der Regionalkrimi mit dem Tourismus verknüpft, auf beide Seiten hin. Das Buch verlockt zur Reise in die beschriebenen Gegenden. Fans oder das lokale Tourismusbüro bieten kriminalistische Touren an: Venedig auf den Spuren von Commissario Brunetti; Oxford erkundet mit Inspektor Morse; Essen und Trinken mit Bruno, Chef de police, in Périgord. Oder eben: die Bündner Gletscherspalte, in der nicht nur eine, sondern zwei Leichen in unterschiedlichen Krimis gesichtet werden.
Barfuss vergleicht dabei grundsätzlicher die Form des Detektivs, der Detektivin und der Tourist:innen als zwei «prototypische Figuren der Moderne». Beide suchen nach dem Verborgenen, Wahren. Detektiv:innen wollen das Verbrechen hinter den Kulissen der gutbürgerlichen Gesellschaft aufdecken, Tourist:innen suchen hinter der alltäglichen Oberfläche die unverhüllte Authentizität. Dabei ist das Authentische im Tourismus seinerseits zur Kulisse geworden, von der Branche hergestellt und bedient. Krimileser:innen können sich nostalgisch oder illusionär damit begnügen oder sich ironisch auf die mehrfachen Brechungen einlassen.
Ein bisschen harte Kost
Barfuss schreibt eingängig, auch in theoretisch mit Siegfried Kracauer oder Antonio Gramsci unterfütterten Passagen. Seine Sprache ist schlank, zugleich kräftig, mit anschaulichen Formulierungen und gelegentlich ironischem Einschlag.
Allerdings: Vor den zwei ertragreichen Kapiteln «Krimigeschichte» und «Krimilektüren» steht ein längerer «Krimiführer», in dem alle 120 Bündner Krimis ausgebreitet werden, und zwar regional nach Handlungsorten. Barfuss bemüht sich durchaus geschickt, alle diese Bücher knapp zu charakterisieren, inklusive biografischem Hintergrund und geografischer Herkunft der Autor:innen. Aber das ist als fortlaufende Lektüre doch ein bisschen harte Kost für Nichtgraubündner:innen. Und es ergibt sich ein merkwürdiger Effekt. Barfuss macht mit, was er als ein Merkmal herkömmlicher Rezeption herausarbeitet: Er identifiziert die «realen» Orte der Krimis und fragt nach der «geografischen Nachprüfbarkeit», etwa wenn ein einheimischer Kommissar in einem surselvischen Krimi Engadiner Dialektausdrücke verwendet – oder verhält es sich umgekehrt? Deshalb ein Lesetipp: vorrangig das zweite und dritte Kapitel lesen und das erste als lexikalisches Hilfsmittel zur Lektüreauswahl zum Beispiel vor Bündner Ferien benützen.
