Gegen die neue Normalität

Ich schreibe diese erste Kolumne für die WOZ am 3. Oktober – dem Tag der deutschen Einheit. Doch es ist kein 3. Oktober wie jeder andere. Es ist einer, an dem sich die Wolken zugezogen haben, an dem Menschen mit Migrationsgeschichte flächendeckend zur Zielscheibe Nummer eins erkoren wurden und an dem paradoxerweise gleichzeitig über ein Verbot der AfD debattiert wird.

Am 3. Oktober 2024 fahre ich, wie einige Jahre zuvor auch, nach Hohenstein-Ernstthal, einem Ort mit ca. 14 000 Einwohner:innen zwischen meiner Heimatstadt Zwickau und Chemnitz in Sachsen. Ich fahre dorthin, weil ich die engagierten Antifaschist:innen unterstützen möchte, die dafür sorgen, dass ein Name nicht vergessen wird: Patrick Thürmer.

Patrick Thürmer ist siebzehn Jahre alt, Malerlehrling und lebt in Hohenstein-Ernstthal, als er Anfang Oktober 1999 mit seinem Freund Klecks auf ein Punkkonzert geht. Schon vor Beginn fangen Neonazis Punks ab und prügeln auf sie ein. Die Punkszene versucht sich zu wehren und greift anschliessend den örtlichen Naziszenetreff an. Als Thürmer und sein Kumpel Klecks nach Hause laufen, hält ein blauer Kleinbus neben ihnen: Faschos steigen aus, Klecks geht zu Boden und stellt sich tot. Thürmer wird weiter verprügelt, in einen Bach geworfen und ermordet.

Auch dieses Jahr findet eine Gedenkdemonstration für Patrick Thürmer statt, an der circa 250 Menschen teilnehmen. Doch eines ist dieses Jahr neu: Heute gibt es allen Ernstes Leute, die das Gedenken an den ermordeten Punk verabscheuungswürdig finden, zum Beispiel weil es vor dem Mord an Thürmer zum Angriff auf das neonazistische Zentrum La Belle gekommen war. Was hier sichtbar wird, ist ein seit Jahren präsenter Diskurs, der im ländlichen Sachsen nicht selten auch von der Polizei geführt wurde beziehungsweise wird, in dem Linke mit Neonazis gleichgesetzt werden.

Während wir also mit flammenden Herzen für die Erinnerung an Patrick Thürmer durch die Strassen einer sächsischen Kleinstadt ziehen, versammeln sich auf der Gegenseite Neonazis, plärren ihre widerlichen Parolen und tanzen auf Thürmers Grab. Noch dazu wurde in der Nacht vor der Demo eine Gedenktafel demontiert.

Ja, das ist mittlerweile die neue Normalität in Ostdeutschland. Am Tag der deutschen Einheit. Es liegt an uns, diese Normalität nicht weiter hinzunehmen, und aus dieser politischen Arbeit werde ich in den kommenden Wochen jeden Freitag berichten.

Jakob Springfeld ist eines der Gesichter der linken Gegenöffentlichkeit Ostdeutschlands. Sein 2022 erschienenes Buch «Unter Nazis» trägt auch deshalb den Untertitel «Jung, ostdeutsch, gegen Rechts». In seiner wöchentlichen Kolumne berichtet er bis zum Jahresende jeweils freitags aus seiner Lebensrealität als antifaschistischer Aktivist in Sachsen.