Durch den Monat mit Ozan Ata Canani (Teil 1): Wer sind Sie als Mensch alles?
Der deutsch-türkische Liedermacher Ozan Ata Canani lebt viele Identitäten gleichzeitig. Vielschichtigkeit begreift er als Stärke, für sich selbst – und für die Gesellschaft.

WOZ: Ozan Ata Canani, Sie singen seit den siebziger Jahren über die Realität vieler Migrant:innen in Deutschland. Was treibt Sie an?
Ozan Ata Canani: Ozan Ata Canani: Mir geht es um die Weigerung, gegenüber Ungerechtigkeiten zu schweigen. Musik ist für mich Widerstand und Erinnerung zugleich. Ich will festhalten, was in meiner Umgebung geschieht, in der Gesellschaft, im Leben der Menschen. Als Musiker verstehe ich mich als eine Art Chronist. Aber manchmal bin ich auch einfach Entertainer, manchmal Brückenbauer und oft Übersetzer.
WOZ: In Ihrem bekannten Lied «Deutsche Freunde» bringen Sie all diese Rollen zusammen. Sie haben es 1978 als Fünfzehnjähriger geschrieben. Warum?
Ozan Ata Canani: Der Auslöser war Max Frischs bekanntes Diktum: «Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.» Das traf meine Erfahrung genau. Zugleich war der Titel eine ironische Antwort auf Politiker:innen, die von «unseren türkischen Freunden» sprachen und gleichzeitig Rückkehrprogramme planten. Es ging ihnen um die ökonomische Verwertbarkeit, weniger um die Menschen.
WOZ: Wer ist Ozan Ata Canani als Mensch?
Ozan Ata Canani: Jede:r von uns ist viele! Ich war lange Zeit Fabrikarbeiter. Wir haben Eimer hergestellt. Tagsüber stand ich am Fliessband, abends war ich Musiker. Heute bin ich Grossvater, früher war ich Sohn. Ich bin die Summe all jener Menschen, die mir begegnet sind. Ein Mensch ist so viel Mensch, wie er andere Menschen in sein Leben lässt. Wer sich aber abschottet, nur auf sich selbst vertraut, wird hart, unbeweglich wie ein Klotz. Das Leben ist Bewegung, Wandel und vor allem Verbindung.
WOZ: Keiner von uns ist also nur jemand?
Ozan Ata Canani: Wir tragen so viele Identitäten in uns – kulturell, sozial, emotional. Das ist kein Nachteil, sondern ein Reichtum. Wir brauchen einander, um überhaupt existieren zu können. Aber wir brauchen auch Raum für uns selbst, um wachsen zu können. Ich denke da oft an Nâzım Hikmets berühmtes Zitat: «Leben wie ein Baum, einzeln und frei, und brüderlich wie ein Wald. Das ist unsere Sehnsucht.» Diese Zeile begleitet mich schon lange.
WOZ: Und was bedeutet das konkret für Ihr Leben?
Ozan Ata Canani: Alles ist miteinander verbunden. Man kann sich nicht einfach herausnehmen und sagen: Ich bin unpolitisch, das betrifft mich nicht. Auch Kunst, auch Musik trägt Verantwortung. Ich sehe das nicht als Bürde, sondern als Chance. Als Musiker bin ich ein Beobachter, ein Spiegel, manchmal auch ein Stachel. Aber um andere berühren zu können, muss ich mich selbst weiterentwickeln. Neugierig bleiben, hinsehen, zuhören, erzählen.
WOZ: Es ist also die Verantwortung eines jeden Einzelnen, dass das Zusammenleben funktioniert?
Ozan Ata Canani: Ja, ich denke schon. Jeder Mensch trägt die Verantwortung, sich weiterzuentwickeln – innerlich, geistig, menschlich, für die Gesellschaft. Wir kommen nicht fertig auf die Welt. Es geht darum, sich selbst zu bilden, offen zu bleiben, Fragen zu stellen. Nur so können wir die Welt um uns herum verstehen und mitgestalten.
WOZ: Die Türkei ist von einer Erzählung der Homogenität geprägt, in Deutschland spricht man von Leitkultur. In beiden Fällen geht es um Einheit – doch wie realistisch ist das in solch vielfältigen Gesellschaften?
Ozan Ata Canani: Solche Konzepte entstehen aus einer Verweigerung der Realität. Denn die Realität ist: Wir sind vielschichtig. Für mich ist das ein zentrales Thema – die Frage nach Heimat, nach Sehnsucht, nach Ankommen und nach dem Zusammenleben mit den unterschiedlichen Menschen, die wir alle sind. Wenn wir diese Vielschichtigkeit bewahren wollen, sowohl als Individuen wie auch als Gesellschaft, dann brauchen wir Demokratie. In der Türkei genauso wie in Deutschland oder in der Schweiz.
WOZ: Dann muss Ihnen die aktuelle politische Lage Sorgen bereiten.
Ozan Ata Canani: Wenn ich mir beispielsweise die Wahlergebnisse in Deutschland anschaue, mache ich mir Sorgen. Aber wir dürfen uns nicht lähmen lassen. Wir müssen wach bleiben. «Wehret den Anfängen», das ist nicht nur ein Spruch. Die Antwort auf politische Härte, auf den Wunsch nach Einheit um jeden Preis, kann nur mehr Demokratie sein.
WOZ: Was braucht es, damit die Demokratie erhalten bleibt?
Ozan Ata Canani: Die Demokratie gibt es nicht zum Nulltarif. Wenn man den Widerstand verschläft, kann das viel Leid für alle verursachen. In vielen Ländern der Welt ist die Demokratie heute in Gefahr, und wir dürfen nicht vergessen: Sie ist kein Selbstläufer. Wichtig ist, dass sich die Bevölkerung eines demokratischen Staates nicht entspannt zurücklehnt, sondern wach bleibt und einschreitet, wenn es nötig ist. Es geht im Moment wirklich darum, dranzubleiben. Nicht nur mit der Stimme, sondern auch mit dem Herzen und auch auf der Strasse. Wir müssen unsere Vielschichtigkeit verteidigen.
Ozan Ata Canani (63) kam 1975 mit zwölf Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Nächste Woche berichtet er vom Aufwachsen als migrantisches Kind und warum Heimat kein singulärer Begriff ist.