Kost und Logis: Wann ist ein Dorf ein Dorf?

Nr. 50 –

Ruth Wysseier über sozialen Kitt und Erosion

Kommenden Samstag hält nach 147 Jahren zum letzten Mal ein Zug am Bahnhof Ligerz, wo ich die letzten Jahrzehnte oft eingestiegen bin, um nach Zürich zu fahren und gelegentlich eine etwas ländlichere Sicht der Dinge in die WOZ-Redaktion zu tragen. Die Bahn wird zur Doppelspur ausgebaut und künftig durch einen Tunnel geführt, in Schafis durchfährt sie eine weite Kurve, der viel Rebland zum Opfer fiel für ein bisschen Zeitgewinn zwischen Genf und St. Gallen. Es fahren nun Busse zu den Bahnhöfen in Twann und Neuenstadt und in ein paar Jahren vielleicht selbstfahrende Autos, auf die die SBB im öffentlichen Verkehr auf dem Land setzen wollen.

Ich habe schon vieles verschwinden sehen hier: das Lädeli, das immer weniger rentierte und in dem ich ab und an Sachen kaufte, die leicht über das Ablaufdatum hinaus liegen geblieben waren; die Post mit der Posthalterin, die über vieles Bescheid wusste, auch darüber, dass unsere vermisste Katze jemandem in Neuenstadt zugelaufen war; die beiden Berufsfischer, die keine Nachfolge fanden; die zwei Hotels, das eine wurde zu Alterswohnungen umgebaut, das andere, mit geschützter Bausubstanz, ausgehöhlt und mit Eigentumswohnungen befüllt – und letztes Jahr nun auch die Schule.

Wann ist ein Dorf noch ein Dorf? Wie viel Verlust mag es leiden, bis der Zusammenhalt, die Identität eines Lebensraums erodiert? Auch wenn vieles sich ändert, wird Ligerz kaum zur anonymen Agglo verkommen, denn es hat eine Trumpfkarte: Ein guter Teil der Bevölkerung lebt und arbeitet am selben Ort, im Weinbau und ihm zugewandten Berufen, in der Brennerei oder als Landmaschinenmechaniker. Man teilt sich Maschinen und organisiert sich in den Arbeitsgruppen der Rebgesellschaft, und im Läset hilft die halbe Bevölkerung bei einem der Winzerbetriebe mit. Das gibt sozialen Kitt. Das zeigte sich etwa während Covid, wo Nachbarschaftshilfe quasi von allein da war. Und wo die Diskussionen, das fiel mir damals auf, weniger gehässig verliefen als anderswo. Man hielt es sogar unter Leuten aus, die komplett gegenteiliger Ansicht waren, denn man kannte und schätzte sich aus anderen Zusammenhängen.

Wo trifft man sich? Einige Winzerfamilien ersetzten die Stammbeiz im Bahnhöfli durch Pop-ups: Bei den einen gibts Fischknusperli am Freitagabend, bei den anderen am Dienstag, am Mittwoch Apéro im Carnotzet bei unseren Nachbar:innen, wo immer etwa die gleichen Leute kommen und ich erfahre, wer sich getrennt hat, wer gerade im Spital und wer gestorben ist. Dann hats ein paar Vereine, Schützen, Trachten, Theater, Dorfläbe, meist fehlt der Nachwuchs. Es gibt ein Jazzlokal, einen kleinen Chor, ein Weinbaumuseum. Ein echter Seelenwärmer sind die Adventsapéros im Dezember, wo es jeden Abend ab 18 Uhr irgendwo eine Einladung zu Glühwein und Suppe gibt und wo sich die notorisch Einsamen und die Älteren zusammenfinden und man neu Zugezogene kennenlernt. Also: Noch ist Ligerz nicht verloren.

Ruth Wysseier ist Winzerin. Sie hofft, dass sie mit ihrem Fazit recht hat. Songempfehlung: Mani Matters «Lied vo de Bahnhöf».