Kost und Logis: Nichts für Feiglinge

Nr. 46 –

Ruth Wysseier stärkt sich mit Simone de Beauvoir

Nein, es ist nicht das Diktat zur Selbstoptimierung, es ist die Notwendigkeit des Selbsterhalts, die mich an diesen seltsamen Ort geführt hat. In diesen Raum, vollgestopft mit Maschinen, auf denen einzelne Menschen sitzen oder liegen und dabei rhythmisch ihre Glieder bewegen. Überall grosse Bahnhofsuhren, die Sekundenzeiger rücken vor. Unsere Zeit ist schon bald abgelaufen, scheinen sie zu sagen.

Zweimal wöchentlich während zweier Jahre müsse ich trainieren, um die Defizite meiner Muskeln zu beheben, lautet der nüchterne Bescheid. Ich versuche, nur auf den Boden oder die Decke zu starren; der Anblick so vieler Oldtimer in Sportklamotten bedrückt mich. Es befriedigt mich nicht einmal, zu den Jüngeren zu gehören. Das ist auch der einzige Ort, wo sich mein Auge freut, wenn es sich – selten mal – auf den tätowierten Muskelpaketen eines Dreissigjährigen ausruhen darf.

So was tut man sich nicht zum Vergnügen an. Nachdem es mich einmal übel erwischt hatte und ich mich nach stundenlangem Jäten einen Monat lang kaum rühren konnte und nur von Schmerzmitteln ernährte, begann ich mit Pilates. Und nun also Muskeltraining.

Es ist schlecht eingerichtet, dass unsere Muskeln zu degenerieren beginnen, kaum dass wir erwachsen sind. Und wenn auch viele klagen, wie ungesund Büroarbeit sei, frage ich mich, ob wir überhaupt für körperliche Arbeit gemacht sind. Ich habe alte Weinbauern gekannt, deren Rücken so stark gekrümmt war, dass sie beim Gehen den Himmel nicht mehr sehen konnten. Ihre Leibesübungen bestanden in der Arbeit, die zu tun war. Sie hatten keine Vorstellung davon, wie ein Körper funktioniert und welche Schäden sie anrichteten.

Das ist nicht überall so. Als wir einmal in Vietnam in einem Dorf übernachteten, weckte uns im Morgengrauen ein Lautsprecher, der die Bevölkerung, Junge und Alte, zum täglichen Turnen zusammenrief. Bei uns streicht neuerdings der nicht so fürsorgliche Staat Turnstunden, um zu sparen. Die Jungen könnten selbst die Verantwortung für ihr Bewegungsverhalten übernehmen, heisst es. Wenn ich mich so umschaue, scheint das nicht besonders gut zu klappen.

Vielleicht liegt es auch daran, dass Turnvereine unmodisch sind und Fitnessabos brutal teuer. Wobei ich dafür dankbar bin, denn nachdem ich für ein Jahr im Voraus zahlen musste, verbietet es sich von selbst, abzubrechen und denen das ganze Geld zu schenken.

Was fehlt, sind Trainingsangebote für unsere Leidenschaften, für Liebe, Freundschaft, Empörung oder Mitgefühl. Simone de Beauvoir sah nur eine Lösung, um zu vermeiden, dass «das Alter zu einer spöttischen Parodie unserer früheren Existenz wird»: Wir dürften nie aufhören, uns sozial, politisch und kulturell zu engagieren, für gesellschaftliche Anliegen zu kämpfen, für Gruppen und Einzelne tätig zu sein, schrieb sie mit sechzig.

Bei diesem Trainingsplan hilft bestimmt auch ein WOZ-Abo.

Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.