Alice Rohrwacher: «Alle wollen den Kuchen nur für sich haben»

Nr. 21 –

In Cannes steht Alice Rohrwacher mit ihrem neuen Film zum dritten Mal im Wettbewerb. Wir trafen die Regisseurin in Nyon, wo sie übers Teilen und andere revolutionäre Ideen sprach.

Filmemacherin Alice Rohrwacher sitzt auf einem antiken Sofa
Immer nur an sich selbst glauben? Das sei doch langweilig, findet Filmemacherin Alice Rohrwacher. Foto: Nikita Thévoz

Den vielleicht schönsten Satz sagt sie über «Lazzaro felice», ihren bislang sicher schönsten Film. Ein zeitlos gegenwärtiges Märchen ist das, über eine treue Seele namens Lazzaro: ein engelsgleicher Bursche vom Land, der einfach nicht altert und gut und rein bleibt, auch wenn die Welt um ihn herum verdirbt. Das Drehbuch habe sich damals fast von selbst geschrieben, sagt Alice Rohrwacher, so schnell sei das gegangen. Ein Film «wie ein Pilz», auch wenn das dann wohl doch etwas geflunkert ist: «Er ist in nur einem Tag gewachsen – aber er kam von weit her.»

Es ist Ende April, die italienische Regisseurin ist für einen Tag zu Gast bei den Visions du Réel in Nyon. Das Festival hat der 41-Jährigen eine umfassende Werkschau gewidmet, in einem Publikumsgespräch erzählt sie jetzt von ihrer Arbeit. Später am Abend fährt sie zurück nach Genf, wo sie an der Endabmischung ihres vierten langen Spielfilms arbeitet. «La chimera» heisst er, dieser Tage feiert der Film im Wettbewerb von Cannes seine Premiere. Er spielt in den achtziger Jahren in Italien und kreist um einen jungen Archäologen aus England, der in den illegalen Handel mit antiken Funden verwickelt wird; gespielt wird er von Josh O’Connor, bekannt als Prince Charles in «The Crown».

In Cannes feierte Alice Rohrwacher einst ihren Durchbruch. Vor neun Jahren war das, als sie für «Le meraviglie» mit dem Grossen Preis der Jury ausgezeichnet wurde. Ein Stück weit hat sie darin auch ihre eigene Jugend verarbeitet: Wie das Mädchen im Film ist auch sie als Tochter eines deutschen Aussteigers aufgewachsen, der nach Italien ausgewandert war, um dort als Imker zu leben.

Meloni? Lieber nicht

Nach ihrer Masterclass in Nyon wartet Rohrwacher für ein Interview im fensterlosen Backstage. Italienische Politik in der Zeit von Giorgia Meloni? Darüber möchte sie eigentlich nicht reden, wehrt sie gleich ab, «wir sind hier an einem Festival des Kinos». Aber irgendwie tut sie es dann doch, angefangen bei ihrem Vater. Dieser, sagt sie, habe sich einst für Italien entschieden, weil das Land damals trotz aller Probleme seinen Charme hatte: «Auch wenn nichts so richtig funktionierte: Die Menschen waren warmherzig, sie schauten zueinander, und sie hielten zusammen.» Vieles davon vermisst sie heute. Vor allem vermisst sie den Respekt für das, was öffentlich ist. Privatbesitz sei alles, was in Italien zähle: «Was öffentlich ist, gehört niemandem, das ist die verbreitete Haltung.» Dabei sei es doch gerade umgekehrt: Was öffentlich sei, gehöre uns allen.

«Heute will niemand mehr teilen, alle wollen den Kuchen nur für sich haben.» Wenn sie jetzt von Kuchen spricht, ist das nicht nur metaphorisch zu verstehen. Denn darum geht es ganz konkret in dem Film, mit dem sie in diesem Frühjahr für den Oscar nominiert war: um eine Zuppa inglese. Eine reiche Spenderin schenkt dieses Weihnachtsdessert einem katholischen Waisenhaus, damit die Kinder dafür beten, dass ihr Mann zu ihr zurückkehrt. Siebzig Eier habe sie gebraucht für dieses Weihnachtsdessert, sagt die Dame auch noch stolz – eine obszön verschwenderische Geste in Zeiten des Zweiten Weltkriegs.

«Le pupille» heisst dieser nicht ganz so kurze Kurzfilm von 37 Minuten. Die reiche Dame wird von Valeria Bruni Tedeschi gespielt, aber es sind die Gesichter der Kinder, die diesen Film zum Leuchten bringen. Es ist eine herzige Adventsgeschichte ohne Zuckerguss, dafür mit anarchistischer Pointe: Brave Mädchen kommen vielleicht in den Himmel, aber dieser katholische Himmel ist doch keine Perspektive. Am Ende liegt das Dessert zerquetscht am Boden, dafür haben alle etwas davon. Diese versteckte Botschaft sei ihr wichtig gewesen, sagt die Regisseurin, «dass der Kuchen kaputtgehen muss, damit er geteilt werden kann».

Eine andere Pointe von «Le pupille» besteht darin, dass Rohrwacher, die bekennende Anarchistin, diesen Film für den Streamingdienst Disney plus realisiert hat. Daher auch diese seltsame Länge, wie sie erklärt: Weil der Film für eine Plattform entstanden ist, konnte er genau so lang oder auch so kurz sein, wie er musste – frei von den Auswertungszwängen des Kinos.

Kinder und Katholizismus: Mit «Le pupille» ist Alice Rohrwacher in gewisser Weise zum Thema ihres Erstlings zurückgekehrt. Damals, in «Corpo celeste» (2011), war es die dreizehnjährige Marta, die nach Jahren in der Schweiz nach Kalabrien zurückkehrt – die alte Heimat als fremde neue Welt. Sie muss dann weite Wege gehen, um angesichts des religiösen Lebens, das ihr so rätselhaft bleibt, eine eigene Haltung zu finden. Und auch wenn Yle Vianello als Marta das rastlose Zentrum der Geschichte war, so lebte schon «Corpo celeste» von einem kollektivistischen Geist, der seither jeden Film von Alice Rohrwacher unverkennbar prägt. Wenn es eine Protagonistin in ihren Filmen gibt, so ist es eigentlich immer: die Gemeinschaft.

Darauf angesprochen, antwortet sie so routiniert, als habe sie diese Frage so ähnlich schon unzählige Male gehört. «Ganz einfach», sagt sie. «Ich kann nicht sehr gut singen – aber wenn ich mit vielen Menschen zusammen singe, ist es toll. Das wissen alle, die schon mal in einem Chor gesungen haben.» Zum Chor ihrer Filme gehört fast immer auch ihre drei Jahre ältere Schwester, die Schauspielerin Alba Rohrwacher. In «Le pupille» spielt sie eine strenge Nonne, in «La chimera» hat sie jetzt nur eine kleine Rolle. Über die Zusammenarbeit mit ihrer Schwester erzählt die Regisseurin in Nyon: «Wir können uns freiheraus hassen – denn die Liebe zwischen uns ist immer stärker.»

Flaschenpost für die Zukunft

Der einzige ihrer Filme, der es in der Schweiz leider nicht ins Kino geschafft hat, war zuletzt der Dokumentarfilm «Futura» (2021). Gedreht hat sie ihn als Gemeinschaftswerk, zusammen mit den zwei befreundeten Regisseuren Pietro Marcello und Francesco Munzi. Die drei sind mit der Kamera durch Italien gefahren und haben junge Erwachsene nach ihren Perspektiven befragt. Es ist eine Reise durch ein Land mit ungewisser Zukunft – und weil bald eine Pandemie dazwischenkam, wurde es auch zu einer Reise durch eine ungewisse Gegenwart.

«Futura» ist ein Film wie eine Zeitkapsel, eine Flaschenpost für eine Zukunft, von der viele dieser jungen Leute kaum zu träumen wagen. Sie hätten sich, so erzählt Rohrwacher, an dokumentarischen Arbeiten aus der Zeit des italienischen Neorealismus orientiert: «Der Film sollte wie ein Fresko sein. Wir wollten nicht in die Tiefe gehen, sondern den Duft der Zeit einfangen.» Ihr Kommentar aus dem Off bleibt zurückhaltend, über weite Strecken lässt der Film einfach die jungen Menschen reden, die Rohrwacher und ihre Kollegen gruppenweise vor der Kamera befragen. Die sozialen Unterschiede sind riesig – nicht nur zwischen Stadt und Land oder zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden, sondern allein schon in einer Stadt wie Palermo: zwischen der selbstbewussten angehenden Kreativklasse im Park und den fragenden Gesichtern einige Strassen weiter oben, im Armenviertel Danisinni.

Eingeschüchtert, aber wovon?

Richtig verstörend dann das Ende von «Futura». Wir sehen Archivbilder vom Juli 2001 in Genua, als im Zuge der G8-Proteste schwer bewaffnete Polizeitrupps die Diaz-Schule stürmen. Und dann, zwanzig Jahre später, der Kontrast könnte nicht schärfer sein: Jugendliche von heute, die teils keine Ahnung haben, was sich damals an dieser Schule in Genua abgespielt hat, die sie jetzt besuchen. Dafür wissen sie genau, was sie sich erlauben dürfen, und vor allem, was nicht. Bloss keine Grenzen überschreiten, so haben sie das verinnerlicht.

Es hat etwas Gespenstisches: Man sieht hier eine Generation, die eingeschüchtert wirkt, ohne dass sie sagen könnte, wovon genau.

Man dürfe das nicht pauschalisieren, sagt Alice Rohrwacher. Es habe schon sein Gutes, dass die Generation der Eltern an Autorität einbüsse: «Die Kehrseite davon ist, dass die Jungen es oft nicht mehr nötig haben, etwas aufzubrechen oder kaputtzumachen. Sie haben keine Autorität mehr, die sie herausfordern könnten, kein Gesetz, gegen das sie sich auflehnen könnten. Aber irgendwann in ihrem Leben wird auch für sie der Moment kommen, wo sie etwas kaputtmachen müssen. Ich hoffe bloss, sie machen nicht sich selbst kaputt.»

Und dann ist da noch dieser Student in Pisa, der in «Futura» einmal sagt: Der einzige Glaube, der heute noch möglich sei, sei der Glaube an sich selbst – ein Satz, der in einem immer noch sehr katholischen Land wie Italien erst recht dystopisch klingt. Klar, so etwas mache ihr Angst, sagt Alice Rohrwacher. «Diese Religion wird ja auch in vielen Filmen propagiert: Vertraue dir selbst, höre auf dich und nicht auf die anderen. Dabei sollte es doch darum gehen, sich als Teil eines Kollektivs zu verstehen.»

Doch ihre Angst weicht gleich wieder einer ansteckenden Zuversicht. Woher sie diese nimmt? Immer nur an sich zu glauben, das sei auf Dauer doch schlicht langweilig, sagt sie und lacht. «Ich bin mir sicher, diese jungen Leute werden das irgendwann selber nicht mehr aushalten. Traue den anderen! Das ist als Idee viel revolutionärer.»

«Le pupille» ist bei Disney plus zu sehen, «Corpo celeste», «Le meraviglie» und «Lazzaro felice» bei playsuisse.ch. «Futura» ist in der Schweiz derzeit nicht verfügbar.

«La chimera» kommt voraussichtlich im Herbst 2023 in der Schweiz ins Kino.